GedichtGedichte

Das Gedicht „Abend“ stammt aus der Feder von Andreas Gryphius.

Der schnelle Tag ist hin; die Nacht schwingt ihre Fahn
Und führt die Sternen auf. Der Menschen müde Scharen
Verlassen Feld und Werk; wo Tier und Vögel waren,
Trauert jetzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit, vertan!

Der Port naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn.
Gleich wie dies Licht verfiel, so wird in wenig Jahren
Ich, du, und was man hat, und was man sieht, hinfahren.
Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn.

Lass, höchster Gott! mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten!
Lass mich nicht Ach, nicht Pracht, nicht Lust, nicht Angst verleiten!
Dein ewig heller Glanz sei vor und neben mir!

Laß, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen,
Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen,
So reiß mich aus dem Tal der Finsternis zu dir!

Analyse

Das Sonett „Abend“ (1650; Epoche des Barock) besteht aus 4 Strophen (je 2 Quartetten und 2 Terzette). Das Reimschema "abba", "abba", "ccd", "eed" - also ein klassisches Sonett.
Die Verse mit den „b“-, „c“- und „e“-Reimen sind dreizehnsilbig, die Kadenzen weiblich, die Verse mit den „a“- und „d“-Reimen sind zwölfsilbig, die Kadenzen männlich.
Das Metrum ist regelmäßig alternierend, es liegt ein sechshebiger Jambus vor. Die Zäsur folgt regelhaft der sechsten Silbe (= der dritten Hebung ) - ein typischer Alexandriner.

Martin Opitz hatte seinem legendären "Buch von der Deutschen Poeterey" (1624) die deutschsprachige Versdichtung auf eine neue Grundlage gestellt. Gryphius erwähnt ihn zwar nur gelegentlich, befolgte aber schon in seinem ersten Gedichtband, den "Lissaer Sonetten" (1637), aufs genaueste die Anweisungen seines schlesischen Landsmanns. So ist auch „Abend“, wie die meisten Sonette von Gryphius, in dem von Opitz empfohlenen Versmaß des Alexandriners verfasst.

Inhalt / Zusammenfassung

Betrachtung des Abends bringt nicht Erleichterung, sondern furchteinflößende Einsicht in die Vergänglichkeit des Lebens (Vanitas Motiv) und Bitte um Rettung aus der Dunkelheit des Todes.
Aus der Vergänglichkeit alles Irdischen eine leidenschaftliche Hinwendung zum Jetzt, zum äußersten Auskosten des Augenblicks abzuleiten (Carpe Diem Motiv), ist für Gryphius offenbar keine Alternative.

Hintergrund

Port (von lateinisch portus): Hafen (für Schiffe); hier symbolisch als Lebensziel / Lebensende (Tod) verwendet.

Interessanterweise vermittelt das Gedicht trotz der stilistischen Konvention (der Gebrauch des Alexandriner-Verses ist bis zur Virtuosität gesteigert) eine suggestiv berührende Aura – wie von überwundener Verzweiflung, von Innehalten und Achtsamkeit.

Varianten

Die Drucke zu den Lebzeiten von Gryphius lasen sich wie folgt und weisen nur minimale orthographische Abweichungen auf:

Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt jhre fahn/
Vnd führt die Sternen auff. Der Menschen müde scharen
Verlassen feld vnd werck / Wo Thier vnd Vögel waren
Trawrt jtzt die Einsamkeit. Wie ist die zeit verthan!

Der port naht mehr vnd mehr sich / zu der glieder Kahn.
Gleich wie diß licht verfiel / so wird in wenig Jahren
Ich / du / vnd was man hat / vnd was man siht / hinfahren.
Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn.

Laß höchster Gott mich doch nicht auff dem Laufplatz gleiten /
Laß mich nicht ach / nicht pracht / nicht lust / nicht angst verleiten.
Dein ewig heller glantz sey vor vnd neben mir /

Laß / wenn der müde Leib entschläfft / die Seele wachen
Vnd wenn der letzte Tag wird mit mir abend machen /
So reiß mich auß dem thal der Finsternuß zu Dir.

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