GedichtGedichte

Das Gedicht „Alte und neue Tempel“ stammt aus der Feder von Wilhelm Müller.

Laßt die alten Tempel stürzen! Klaget um den Marmor nicht,
Wenn die Hand des blinden Heiden seine schöne Form zerbricht!
Nicht in Steinen, nicht in Asche wohnt der Geist der alten Welt,
In den Herzen der Hellenen steht sein königliches Zelt;
Darin hat er lang' geschlafen, hat an Gestern stets gedacht
Und des Morgens ganz vergessen in dem Traum der langen Nacht.
Und vom Vater zu dem Sohne, und zum Enkel von dem Sohn
Ging aus Brust in Brust der Schläfer und bewahrte seinen Thron.
Mancher hat wohl kaum geahnet, wen er in dem Herzen trug,
Auch als der Herr der Herren sprach das große Wort: Erwacht!
Und von Hellas Bergesgipfeln in der heil'gen Osternacht
Seiner Engel Scharen bliesen die Posaunen durch das Land,
Da, da hat der alte Schläfer jauchzend sich in uns ermannt,
Ist gefahren durch die Glieder, in das Haupt und in die Hand,
Ja, bis in die Lanzenspitze, ja, bis in des Schwertes Knauf
Zuckt er, wenn des Kriegers Rechte schwingt die freien Waffen auf.
Laßt die alten Tempel stürzen! In uns ist der alte Geist,
Der uns einen neuen Tempel, einen ewigen verheißt,
Einen Tempel des Erhalters, der den Schläfer hat bewacht,
Einen Tempel des Erweckers in der heil'gen Osternacht!

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