GedichtGedichte

Das Gedicht „Am Turme“ stammt aus der Feder von Annette von Droste-Hülshoff.

Ich steh′ auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und lass′ gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!

Und drunten seh′ ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen, die Wellen
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch,
Und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht′ ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walross, die lustige Beute!

Und drüben seh′ ich ein Wimpel wehn
So keck wie eine Standarte,
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht′ ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen,
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöve streifen.

Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar,
Und lassen es flattern im Winde!

Anmerkung: Als Mänaden bezeichnet man sowohl die mythischen Begleiterinnen der dionysischen Züge als auch die historisch belegbaren Kultanhängerinnen. Das Bild der Mänade und des mänadischen Kultes wurden bereits in der Antike stark durch die Tragödie "Die Bakchen" des Euripides geprägt.

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