GedichtGedichte

Das Gedicht „Carpe diem“ stammt aus der Feder von Martin Opitz.

Ich empfinde fast ein Grauen,
dass ich, Plato, für und für
bin gesessen über dir.
Es ist Zeit hinauszuschauen
und sich bei den frischen Quellen
in dem Grünen zu ergehn.
wo die schönen Blumen stehn
und die Fischer Netze stellen!

Wozu dienet das Studieren
als zu lauter Ungemach!
Unterdessen läuft die Bach
unsers Lebens, das wir führen,
ehe wir es inne werden,
auf ihr letztes Ende hin:
dann kömmt ohne Geist und Sinn
dieses alles in die Erden.

Holla, Junger, geh und frage,
wo der beste Trunk mag sein,
nimm den Krug und fülle Wein!
Alles Trauren, Leid und Klage,
wie wir Menschen täglich haben,
eh uns Klotho fortgerafft,
will ich in den süssen Saft,
den die Traube gibt, vergraben.

Kaufe gleichfalls auch Melonen
und vergiss des Zuckers nicht,
schaue nur, dass nichts gebricht!
Jener mag der Heller schonen,
der bei seinem Gold und Schätzen
tolle sich zu kränken pflegt
und nicht satt zu Bette legt;
ich will, weil ich kann, mich letzen!

Bitte meine guten Brüder
auf die Musik und ein Glas!
Kein Ding schickt sich, dünkt mich, bass
als gut Trank und gute Lieder.
Lass ich gleich nicht viel zu erben,
ei, so hab ich edlen Wein!
Will mit andern lustig sein,
muss ich gleich alleine sterben.

Hinweis: Klotho (deutsch ‚Spinnerin‘) ist in der griechischen Mythologie die jüngste der drei Moiren. Ihre Aufgabe ist es, den Lebensfaden zu spinnen, der von Lachesis bemessen und von Atropos abgeschnitten wird.
Nach Hesiod war Klotho eine Tochter von Zeus und Themis. An anderer Stelle in der Theogonie werden die Schicksalsgöttinnen (Moiren) allerdings Kinder der Nyx („Nacht“) genannt.

Carpe diem (lat.; wörtlich: „Pflücke den Tag“) ist eine Sentenz aus der Ode „An Leukonoë“ des römischen Dichters Horaz (* 65 v. Chr.; † 8 v. Chr.). Sie fordert in der Schlusszeile als Fazit des Gedichts dazu auf, die knappe Lebenszeit heute zu genießen und das nicht auf den nächsten Tag zu verschieben.

Siehe auch das Gedicht Carpe diem! von Betty Paoli.

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