Das Gedicht „Kassandra“ stammt aus der Feder von Friedrich Schiller.
Freude war in Trojas Hallen,
Eh die hohe Feste fiel;
Jubelhymnen hört man schallen
In der Saiten goldnes Spiel;
Alle Hände ruhen müde
Von dem tränenvollen Streit,
Weil der herrliche Pelide
Priams schöne Tochter freit.
Und geschmückt mit Lorberreisern,
Festlich wallet Schar auf Schar
Nach der Götter heil'gen Häusern,
Zu des Thymbriers Altar.
Dumpf erbrausend durch die Gassen
Wälzt sich die bacchant'sche Lust,
Und in ihrem Schmerz verlassen
War nur eine traur'ge Brust.
Freudlos in der Freude Fülle,
Ungesellig und allein,
Wandelte Kassandra stille
In Apollos Lorbeerhain.
In des Waldes tiefste Gründe
Flüchtete die Seherin,
Und sie warf die Priesterbinde
Zu der Erde zürnend hin:
»Alles ist der Freude offen,
Alle Herzen sind beglückt,
Und die alten Eltern hoffen,
Und die Schwester steht geschmückt.
Ich allein muß einsam trauern,
Denn mich flieht der süße Wahn,
Und geflügelt diesen Mauern
Seh' ich das Verderben an.
Eine Fackel seh' ich glühen,
Aber nicht in Hymens Hand;
Nach den Wolken seh' ich ziehen,
Aber nicht wie Opferbrand.
Feste seh' ich froh bereiten,
Doch im ahnungsvollen Geist
Hör' ich schon des Gottes Schreiten,
Der sie jammervoll zerreißt.
Und sie schelten meine Klagen,
Und sie höhnen meinen Schmerz.
Einsam in die Wüste tragen
Muß ich mein gequältes Herz,
Von den Glücklichen gemieden
Und den Fröhlichen ein Spott!
Schweres hast du mir beschieden,
Pythischer, du arger Gott!
Dein Orakel zu verkünden,
Warum warfest du mich hin
In die Stadt der ewig Blinden
Mit dem aufgeschloßnen Sinn?
Warum gabst du mir zu sehen,
Was ich doch nicht wenden kann?
Das Verhängte muß geschehen,
Das Gefürchtete muß nahn.
Frommt's, den Schleier aufzuheben,
Wo das nahe Schrecknis droht?
Nur der Irrtum ist das Leben,
Und das Wissen ist der Tod.
Nimm, o nimm die traur'ge Klarheit,
Mir vom Aug den blut'gen Schein!
Schrecklich ist es, deiner Wahrheit
Sterbliches Gefäß zu sein.
Meine Blindheit gib mir wieder
Und den fröhlich dunklen Sinn!
Nimmer sang ich freud'ge Lieder,
Seit ich deine Stimme bin.
Zukunft hast du mir gegeben,
Doch du nahmst den Augenblick,
Nahmst der Stunde fröhlich Leben -
Nimm dein falsch Geschenk zurück!
Nimmer mit dem Schmuck der Bräute,
Kränzt' ich mir das duft'ge Haar,
Seit ich deinem Dienst mich weihte
An dem traurigen Altar.
Meine Jugend war nur Weinen,
Und ich kannte nur den Schmerz,
Jede herbe Not der Meinen
Schlug an mein empfindend Herz.
Fröhlich seh' ich die Gespielen,
Alles um mich lebt und liebt
In der Jugend Lustgefühlen,
Mir nur ist das Herz getrübt.
Mir erscheint der Lenz vergebens,
Der die Erde festlich schmückt;
Wer erfreute sich des Lebens,
Der in seine Tiefen blickt!
Selig preis' ich Polyxenen
In des Herzens trunknem Wahn,
Denn den Besten der Hellenen
Hofft sie bräutlich zu umfahn.
Stolz ist ihre Brust gehoben,
Ihre Wonne faßt sie kaum,
Nicht euch, Himmlische dort oben,
Neidet sie in ihrem Traum.
Und auch ich hab' ihn gesehen,
Den das Herz verlangend wählt!
Seine schönen Blicke flehen,
Von der Liebe Glut beseelt.
Gerne möcht' ich mit dem Gatten
In die heim'sche Wohnung ziehn;
Doch es tritt ein styg'scher Schatten
Nächtlich zwischen mich und ihn.
Ihre bleichen Larven alle
Sendet mir Proserpina;
Wo ich wandre, wo ich walle,
Stehen mir die Geister da.
In der Jugend frohe Spiele
Drängen sie sich grausend ein,
Ein entsetzliches Gewühle!
Nimmer kann ich fröhlich sein.
Und den Mordstahl seh' ich blinken
Und das Mörderauge glühn;
Nicht zur Rechten, nicht zur Linken
Kann ich vor dem Schrecknis fliehn;
Nicht die Blicke darf ich wenden,
Wissend, schauend, unverwandt
Muß ich mein Geschick vollenden
Fallend in dem fremden Land« -
Und noch hallen ihre Worte -
Horch! da dringt verworrner Ton
Fernher aus des Tempels Pforte,
Tot lag Thetis' großer Sohn!
Eris schüttelt ihre Schlangen,
Alle Götter fliehn davon,
Und des Donners Wolken hangen
Schwer herab auf Ilion.
Analyse
Die Ballade "Kassandra" (1803; Epoche der Weimarer Klassik) besteht aus 16 Strophen mit je 8 Versen. Das Reimschema ist "unreiner" Kreuzreim (häufig reimen sich i, ie und ü), allerdings brechen manche Verse mit dem Kreuzreimschema. Schiller schien die verständliche Darstellung des Inhaltes einer Formvollendung vorzuziehen - oder er war in Eile ;-). Das Metrum ist ein vierhebiger Trochäus mit regelmäßig alternierender weiblicher und männlicher Kadenz.
Inhalt / Zusammenfassung
Der Text beruht auf der mythologischen Gestalt (aus der Ilias von Homer) der Seherin Kassandra sowie dem "Fest" der Trojaner, nach zehnjähriger Belagerung durch die Griechen, und bevor sich der wahre Zweck des Trojanischen Pferdes enthüllte.
- Troja (auch Ilion genannt) war eine Stadt im Altertum an der Meerenge der türkischen Dardanellen. Die Ausgrabungsstätte (1871 von Heinrich Schliemann und Frank Calvert lokalisiert) liegt auf dem Hügel Hisarlik in der Provinz Çanakkale im Nordwesten der Türkei am Hellespont.
- Priamos ist der Sohn des Laomedon und der Strymo (Plakia, Tochter des Otreus). Er war in der griechischen Mythologie der sechste und letzte König von Troja (Ilios) während des von Homer geschilderten trojanischen Krieges.
- Kassandra (auch: „schöne Tochter“) ist die Tochter von Priamos und der Hekabe, damit Schwester von Hektor, Polyxena, Paris und Troilos sowie Zwillingsschwester von Helenos.
- Der Gott Apollon gab Kassandra wegen ihrer Schönheit die Gabe der Weissagung. Als sie jedoch seine Verführungsversuche zurückwies, verfluchte er sie, auf dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenken werde. Derart ungehörte Warnungen werden als Kassandrarufe (bzw. Kassandra-Syndrom) bezeichnet.
- Thymbra ist ein Ort nahe (ca. 7km) Troja. Hier liegt ein Tempel von Apollo, dem Gott des Gott des Lichts, des Frühlings, der sittlichen Reinheit & Mäßigung sowie der Weissagung und der Künste (insbesondere der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs).
- Bacchus, poetisch auch Iacchus, ist die lateinische Form von Bakchos, einem Beinamen des Dionysos, Gott des Weines, des Rausches, des Wahnsinns und der Ekstase.
- Pythia war die Bezeichnung für die amtierende weissagende Priesterin im Orakel von Delphi (Heiligtum von Apollon), die in veränderten Bewusstseinszuständen ihre Prophezeiungen verkündete.
- Lenz ist ein poetischer Ausdruck für den Frühling. So war den Foxtrott "Veronika, der Lenz ist da" ein beliebter Schlager der 1920er Jahre. Siehe auch das Gedicht Lenzfahrt.
- Die trojanische Prinzessin Polyxena war die Schwester von Kassandra. Ihre Liebe galt dem griechischen Kriegers Achilles, der ihr zugeneigt war. Allerdings vergebens, da sie eine Priesterin Athenas war und daher Jungfrau bleiben musste.
- Hymen ist in der hellenistischen Religion ein Gott der Hochzeitszeremonien, der Feste und Gesang inspiriert. Der Hymenaios, der mit dem Namen des Gottes zusammenhängt, ist eine Gattung der griechischen Lyrik, die während der Prozession der Braut zum Haus des Bräutigams gesungen wurde und in der der Gott angesprochen wird, im Gegensatz zum Epithalamium, das an der Schwelle zur Hochzeit gesungen wird.
- Styx (deutsch ‚Wasser des Grauens‘) ist in der griechischen Mythologie neben Acheron, Lethe, Kokytos, Phlegethon und Eridanus ein Fluss der Unterwelt und eine Flussgöttin.
- Proserpina ist eine römische Gottheit. Sie ist die Tochter des Jupiter und der Ceres und Gattin des Pluto, der sie in die Unterwelt entführte und zu seiner Gemahlin machte. Sie ist die Herrscherin über die Toten und Königin der Unterwelt. Sie entspricht der Persephone in der griechischen Mythologie.
- Achilleus ist ein beinahe unverwundbarer Heros der Griechen (Achäer) vor Troja und der Hauptheld der Ilias des Homer. Er ist der Sohn des Peleus, des Königs von Phthia in Thessalien, und der Meernymphe Thetis. Seine Mutter tauchte ihn in den Unterweltsfluss Styx, was ihn unverwundbar machte. Seine Ferse aber, an welcher ihn Thetis dabei festhielt, wurde nicht benetzt und blieb daher verwundbar.
Oftmals wird er mit den Attributen „Pelide“ oder „Peleiade“ (Sohn des Peleus) bezeichnet oder „Aiakide“ (Abkömmling des Aiakos), die an seine Vorfahren erinnern.
Im zehnten Kriegsjahr eskalierte ein Streit mit dem Anführer der griechischen Streitmacht, Agamemnon, sodass Achilleus der Schlacht fernblieb („Zorn des Achilleus“) Der Tod seines besten Freundes Patroklos trieb ihn dazu, wieder zu den Waffen zu greifen, um ihn an Hektor, dem größten Helden der Troer, zu rächen. Kurz nachdem Achilleus Hektor getötet hatte, fand er den Tod, als er an seiner verwundbaren Ferse von einem Pfeil des Paris, den der Gott Apollon dorthin lenkte, getroffen wurde. - Eris (deutsch ‚Streit, Zank‘) ist die Göttin der Zwietracht und des Streites. Sie ist Tochter der Nyx, gilt auch als Schwester des Kriegsgottes Ares.
Hintergrund
Der Auslöser des Trojanischen Krieges (13. oder 12. Jahrhundert v. Chr.) war die Entführung der Helena, der Ehefrau des Menelaos, durch den trojanischen Prinzen Paris. Daraufhin zogen die vereinten Griechen gegen Troja, um sich zu rächen. Trotz zehnjähriger Belagerung gelang es jedoch nicht, die stark befestigte Stadt zu erobern.
Auf Rat des Odysseus bauten die Griechen schließlich ein großes hölzernes Pferd, in dem sich die tapfersten Krieger versteckten, und täuschten die Abfahrt ihrer Schiffe vor. Die Trojaner holten entgegen den Warnungen der Kassandra und des Priesters Laokoon das Pferd in die Stadt. In der Nacht kletterten die Griechen aus ihrem Versteck, öffneten die Tore und konnten so die Trojaner überwältigen.
Aus dieser Begebenheit heraus entstand der bis heute gängige Begriff des Trojanischen Pferdes.
"Kassandra" (1983) ist zudem eine Erzählung der ostdeutschen Schriftstellerin Christa Wolf (1929 - 2011), die den Trojanischen Krieg aus der Perspektive der Titelfigur beschreibt.
Weitere gute Gedichte des Autors Friedrich Schiller.
- An die Freude
- Hoffnung
- Das Lied von der Glocke
- Die Kraniche des Ibykus
- Die Bürgschaft
- Kassandra
- Der Handschuh
- Der Taucher
- Breite und Tiefe
- Nänie