GedichtGedichte

Das Gedicht „Mit Fünfzig Jahren“ stammt aus der Feder von Josef Weinheber.

I.

Geschwür, das sich nicht schließt,
Verwundung, die nicht heilt.
Traumschatten, der zerfließt,
Tag, der vorübereilt —

Vielleicht, daß einer spät,
wenn all dies lang' vorbei,
das Schreckliche versteht,
die Folter und den Schrei —

und wie ich gut gewollt
und wie ich bös getan;
der Furcht, der Reu gezollt
und wieder neuem Wahn —

und wie ich endlich ganz
dem Nichts verfallen bin
und der geheime Kranz
mir sank dahin.

II.

Hineingeboren in mein Ich,
ich hatte nichts zu tun als echt zu sein.
Doch diese Welt stand fürchterlich
dagegen auf, mit blutigem Widerschein.

Nun steh ich da, entlaubt, entnervt, entehrt.
Und sie, die Zeit, sie hätte nichts daran
verschuldet? Wie die Zeit sich wehrt!
Sie schiebt es ab, sie spricht sich frei vom Wahn —

Doch ich, für mich allein, muß meinen „Ruhm"
austragen dennoch: Niemals vorher war
einer so Volk. Und Volk ist Duldertum,
und ich ein Dulder, den das Volk gebar.

Was will die Zeit von mir ? Ward mir Gebühr?
Geehrt hat mich die Macht, doch nicht gefragt.
So schließt sich nimmer das Geschwür.
Und alles, was ich sprach, bleibt ungesagt.

III.

Für die Seel geringsten Raum
hätt' ich mir ersehnt;
fern dem Ehrgeiz, nah dem Traum,
und von Kunst verschönt.

Hab ich denn gedurft, was Tier,
Stein und Pflanze darf?
Da man mich der Mengengier
In den Rachen warf?

Hier in diesem sondern Land,
einst von Liedern drang,
leid ich nun, ins Haus gebannt,
an dem Mißgesang.

Lebe so… Der Bauer nimmt
mein gerechtes Geld.
Aber seine Welt, sie stimmt
nicht mit meiner Welt.

Und die größre Welt, sie hat
Rasendes zu tun.
Bleibe so Geschöpf der Stadt,
auch in Bauernschuhn —

Wie Ovid, in Trauer, wein
ich der Heimat nach.
Habe keine. Habe kein
eigenes Gemach.

Ganz ist die Verbannung, ganz.
Der von außen fasst
nur den Schein, den Aberglanz,
nicht die innre Last —

Ach, ein Berg Verlassenheit
liegt auf meiner Brust.
Meins und alles Daseinsleid
ist mir grau bewusst…

IV.

Ich will von dem nichts reden,
was jeder Zeit gemein.
Die Furchen und die Fäden
des Alters sind auch dein,

und sterben müssen wir alle.
Ich aber klage an,
weil ich im Sündenfalle
nichts Schuldiges hab getan.

Die Zeit, die Zeit verriet mich,
und darum klage ich an.
Das Leid, das Leid geschieht mich,
und darum klag ich an —

Ich klage an, ich klage
den Wahn an und das Leid.
Ich selbst bin nur die Waage
künftiger Menschlichkeit.

V.

Ist es zu tragen? Mich,
Meins habe ich kaum gesehn.
Einsam und lächerlich.

Bitter, das zu gestehn!
Meins hieß immer: Der Mensch. Aber der
schändet mein Untergehn.

Blut, Mord, Frevel, Bezicht:
Das ist der Mensch — Und ich
trage sein Angesicht.

Wo ist da noch Gewähr?
Stürzt er, stürzt das Meinige auch.
Schläft Gott? Ist er nicht mehr?

Trümmer und Rauch…

VI.

Was wird uns denn erlösen,
wenn es nicht dieses ist?
Errettet kann werden vom Bösen,
wer sich am Bösen misst.

Ich war gewillt, mich zu messen.
Mich bringt kein Traum zur Ruh.
Ich habe nichts vergessen,
ich lüge nichts dazu,

das Gottsein und das Tiersein
zerlebte ich Zug um Zug.
Ein halbes Jahrhundert Hiersein
war Schule genug…

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