GedichtGedichte

Das Gedicht „Die Stadt im Meer“ stammt aus der Feder von Edgar Allan Poe.

I.

Weh! wunderliche, einsame Stadt,
Drin Tod seinen Thron errichtet hat,
Tief unter des Westens düsterer Glut,
Wo Sünde bei Güte, wo Schlecht bei Gut
In letzter ewiger Ruhe ruht.
An Schlössern, Altären und Türmen hat
(Zerfreßnen Türmen, die nicht beben!)
Nichts Gleiches eine unsrige Stadt.
Von Winden vergessen, die wühlen und heben,
Stehn unterm Himmel die Wasser ringsum,
Schwermütige Wasser, ergeben und stumm.

Kein Strahlen vom Himmel kommt herab
Auf jener Stadt langnächtiges Grab.
Doch steigt ein Licht aus dem Meere herauf,
Strömt schweigend an kühnen Zinnen hinauf,
Hinauf an Türmen bis zum Knauf,
Hinauf an Palästen, an Zitadellen,
An Tempeln hinauf und an Babylonwällen,
Hinauf an vergessenen Laubengängen
Mit eingemeißelten Fruchtgehängen,
Hinauf an manchem Opferstein,
Auf dessen Friesen zu engem Verein
Verflochten Viola, Violen und Wein.

Stehn unterm Himmel die Wasser ringsum,
Schwermütige Wasser, ergeben und stumm.
Die Mauern und Schatten wie Nebelduft –
Es scheint, als hänge alles in Luft.
Vom Turm, der herrschend ragt und droht,
Schaut riesenhaft herab der Tod.

Geöffnete Tempel und Totengrüfte
Gähnen auf leuchtende Meeresschlüfte.
Doch nicht die blitzenden Juwelen
In goldner Götzen Augenhöhlen
Und nicht der reiche Tod verführen
Die starren Wasser, sich zu rühren:
Kein kleinstes Wellchen kommt in Gang
Die gläserne Einöde entlang;
Kein Kräuseln erinnert, daß weniger leer
Von Wind ist irgendein anderes Meer,
Nichts sagt, daß je ein Wehen war
Auf Meeren, die weniger grauenhaft klar.

Doch, oh – es regt sich leis wie Wind!
Ein Wellen durch das Wasser rinnt –
Als ob die Türme im sachten Sinken
Die Flut verschöben zur Rechten und Linken –
Als ob schon die Spitzen inmitten des blassen
Himmels Lücken zurückgelassen.
Ein roteres Glimmen steigt heran –
Die Stunden halten den Atem an –
Und wenn die Stadt hinab, hinab
Von hinnen sinkt mit unirdischem Stöhnen,
Wird ihr von eintausend Thronen herab
Der Gruß der Hölle tönen.

Analyse

Das Gedicht "Die Stadt im Meer" (1845; Epoche des Symbolismus) besteht aus 5 Strophen. Die erste, zweite und vierte Strophe bestehen aus 12 Zeilen, die dritte aus 6 und die fünfte wieder aus 12. Poe wählte für dieses Stück ein sehr strukturiertes Reimschema, wie es in seinen poetischen Werken üblich ist. Die Zeilen reimen sich auf "AABBCC" und so weiter, mit nur wenigen Stellen, in denen das Muster durchbrochen oder verändert wird.

In diesem Gedicht bedient sich Poe einer archaischen Diktion. Viele der Wörter sind Beispiele für Archaismen, und viele andere klingen altmodisch. Dies wertet die Sprache auf, lässt sie poetischer klingen und trägt zur düsteren Stimmung bei.

Inhalt / Zusammenfassung

Dies ist ein weiteres klassisches Gedicht von Poe, das sich mit dem Tod befasst und ihn auf eine unkonventionelle Weise darstellt. Der unheimliche Schauplatz und die ahnungsvolle Abgeschiedenheit in "Die Stadt im Meer" ist ein gängiges Mittel der Gothic-Fiction, das sich mit dem Thema des Gedichts einer selbstbewussten Dramatisierung des Untergangs verbindet, ähnlich wie in Poe's "Der Schläfer" und "Das Tal der Unruhe".

Es handelt sich um eine Stadt im Westen, die vom Tod beherrscht wird, der verehrt wird. Er wird als ein Gott gesehen, der über eine glorreiche, friedliche Stadt im Westen herrscht. Es gibt "Kuppeln und Türme und königliche Hallen, und Fächer und babylonische Mauern". Dass die Stadt im Westen liegt, ist angemessen, denn der Westen, in dem die Sonne untergeht, wird traditionell mit dem Tod assoziiert. Am Ende des Gedichts bewegt eine "Bewegung in der Luft" oder eine Welle die Türme, so dass sie "eine Leere im filigranen Himmel" schaffen. Poe spricht im letzten Teil des Gedichts vom Ende der Tage, wenn "die Wellen nun röter glühen, die Stunden schwach und leise atmen". Das Rotwerden der Wellen ist ein Zeichen für das Kommen der Hölle, denn Rot ist die Farbe des Feuers und damit die Farbe der Hölle und des Teufels. "Und wenn, ohne irdisches Stöhnen, die Stadt sich niederlässt, wird die Hölle, die von tausend Thronen aufsteigt, ihr Ehrerbietung erweisen." Die letzten Zeilen des Gedichts sprechen von der Dankbarkeit des Teufels gegenüber dem Tod, der ihm erlaubt, die Erde zu beherrschen.

Außerdem deutet der Schluss darauf hin, dass diese Stadt noch böser ist als die Hölle, denn diese verehrt die Stadt. Es wird angedeutet, dass der Tod schlimmer sein könnte als der Teufel.

II.

Das ist des Todes Residenz,
Diese seltsame Stadt im fernen Westen.
Hier thront er und erteilt Audienz
Den Bösen und Guten, den Schlimmsten und Besten.
Hier stehen mächtige Säulenhallen
(Zermorschtes Gemäuer, das nicht zittert)
Neben Kapellen und Kathedralen
Und hohen Palästen, schwarz und verwittert.
Ringsum, vom Winde vergessen, ruht,
Wie schlafend, eine eisige Flut.

Kein Strahl aus dem himmlischen Gewölbe
Fällt auf das Dunkel dieser Stadt;
Doch einen Schimmer, traurig und matt,
Entsendet das Meer, das rötlich gelbe.
Und der kriecht hinauf an dunklen Palästen,
An babylonischen Türmen und Vesten.
Der kriecht empor an eisernen Kerkern
Und schattigen, ausgestorbenen Erkern.
Der schlängelt sich aufwärts an Säulenhallen
Und an gigantischen Kathedralen
Mit steinernem Zierat von grotesken
Blumengewinden und Arabesken,
An vielen wundersamen Kapellen –
Und gleitet zurück in die kalten Wellen,
Die melancholischen, schweigenden Wellen.

Von einem stolzen Turm übersieht
Der finstere König sein Gebiet.

Tempel und Gräber öffnen sich weit –
Da erglänzt eine seltsame Herrlichkeit.
Doch weder die Gräber mit ihren Schätzen,
Noch die demantenen Augen der Götzen
Locken die Wogen aus ihrem Bette.
Gläsern bleibt die schaurige Glätte;
Kein Hauch, kein noch so leises Säuseln,
Erhebt sich, diese Fläche zu kräuseln.
Kein Schwellen erzählt von glücklichen Seen,
Worüber heitere Lüfte wehen.
Kein Wallen erzählt, daß es Meere gibt,
Weniger grauenhaft ungetrübt.
Da regt sich etwas im trägen Meere,
Als wären die Türme plötzlich versunken
Und hätten die Flut auseinandergeschoben;
Die Woge färbt sich, als ob ein Funken,
Ein wärmender Sonnenfunken von oben,
Auf sie herniedergeglitten wäre.
Und wenn nun durch den geöffneten Spalt
Der trägen, melancholischen Flut
Die seltsame Stadt versinkt – dann zahlt
Ihr die Hölle selber Tribut.

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