GedichtGedichte

Das Gedicht „Tränen des Vaterlandes“ stammt aus der Feder von Andreas Gryphius.

Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret.
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun,
Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Kartaun
Hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.

Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret,
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
Die Jungfern sind geschändt, und wo wir hin nur schaun,
Ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret.

Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fortgedrungen.

Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot:
Dass auch der Seelenschatz so vielen abgezwungen.

Analyse

Das Gedicht "Tränen des Vaterlandes" (1637; Epoche des Barock) besteht aus 4 Strophen (je 2 Quartetten und 2 Terzette). Das Reimschema "abba", "abba", "ccd", "eed" entspricht mit seinen beiden umarmenden und Schweifreimen der typischen Form eines Sonett - wie sie 1624 von Martin Opitz in seinem "Buch von der Deutschen Poeterey" empfohlenen wurde.
Das Metrum ist regelmäßig alternierend, es liegt ein sechshebiger Jambus vor. Die Zäsur folgt regelhaft der sechsten Silbe (= der dritten Hebung ) - ein typischer Alexandriner.

Inhalt / Zusammenfassung

Die ersten 3 Strophen beschreiben, welche Folgen der 30-jährige Krieg (1618 bis 1648) mit sich gebracht hat. Es werden sowohl materielle Zerstörungen, wie die in Trümmern liegende Stadt, als auch körperlich Verstümmelungen, bis hin zum Tod geschildert. Auch die Hungersnot und die Pest Epidemie werden genannt.

In der letzten Strophe kontempliert das lyrische Ich, dass es neben all diesen Verwüstungen, auch noch die Narben auf der Seele der Überlebenden ihren Tribut fordern.

Hintergrund

Das Sonett ist eine Reaktion auf die Schrecken und Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges und eines der bekanntesten Barockgedichte. Zum dreihundertstem Geburtstag 1916 von Gryphius erschienen zwei Auswahlbände. Der Schriftsteller Klabund (Pseudonym von Alfred Henschke) erklärte ihn zum Pazifisten, der verfolgt worden sei, „weil seine Dichtungen geeignet waren, das Volk gegen den Krieg aufzureizen“.

Der expressionistische Dichter und zeitweise kommunistische Politiker Johannes R. Becher gab 1954 eine Anthologie „Tränen des Vaterlandes“ heraus, die das Bild der frühneuzeitlichen Dichtung in der DDR prägte. Im Moskauer Exil hatte er 1937 ein Sonettpaar geschrieben:

Tränen des Vaterlandes. Anno 1937

I.
O Deutschland! Sagt, was habt aus Deutschland ihr gemacht?!
Ein Deutschland stark und frei?! Ein Deutschland hoch in Ehren?!
Ein Deutschland, drin das Volk sein Hab und Gut kann mehren,
Auf aller Wohlergehn ist jedermann bedacht?!

Erinnerst Du Dich noch des Rufs: „Deutschland erwacht!“?
Als würden sie Dich bald mit Gaben reich bescheren,
So nahmen sie Dich ein, die heute Dich verheeren.
Geschlagen bist Du mehr denn je in einer Schlacht.

Dein Herz ist eingeschrumpft. Dein Denken ist mißraten.
Dein Wort ward Lug und Trug. Was ist noch wahr und echt?!
Was Lüge noch verdeckt, entblößt sich in den Taten:

Die Peitsche hebt zum Schlag ein irrer Folterknecht,
Der Henker wischt das Blut von seines Beiles Schneide –
O wieviel neues Leid zu all dem alten Leide!

II.
Du mächtig deutscher Klang: Bachs Fugen und Kantaten!
Du zartes Himmelsblau, von Grünewald gemalt!
Du Hymne Hölderlins, die feierlich uns strahlt!
O Farbe, Klang und Wort: geschändet und verraten!

Gelang es euch noch nicht, auch die Natur zu morden?!
Ziehn Neckar und der Rhein noch immer ihren Lauf?
Du Spielplatz meiner Kindheit: wer spielt wohl heut darauf?
Schwarzwald und Bodensee, was ist aus euch geworden?

Das vierte Jahr bricht an. Um Deutschland zu beweinen,
Stehn uns der Tränen nicht genügend zu Gebot,
Da sich der Tränen Lauf in soviel Blut verliert.

Drum, Tränen, haltet still! Laßt uns den Haß vereinen,
Bis stark wir sind zu künden: „Zu Ende mit der Not!“
Dann: Farbe, Klang und Wort! Glänzt, dröhnt und jubiliert!

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