GedichtGedichte

Das Gedicht „Ain tunckle farb von occident“ stammt aus der Feder von Oswald von Wolkenstein.

I
Ain tunkle farb von occident
mich senlichen erschrecket,
Seid ich ir darb und lig ellend
des nachtes ungedecket.
Die mich zu vleiss mit ermlein weiss und hendlin gleiss
kan freuntlich zue ir smucken,
Die ist so lang, das ich von pang in meim gesang
mein klag nicht mag verdrucken.
Von strecken krecken mir all bain,
wenn ich die lieb beseuffte,
Die mir mein gier neur weckt allain,
darzue meins vatters teuchte.

II
Durch winken wank ich mich verker
des nachtes ungeslaffen,
Gierlich gedanck mir nahent ferr
mit unhilflichem waffen.
Wenn ich mein hort an seinem ort nicht vind all dort,
wie offt ich nach im greiffe, So ist neur, ach, mit ungemach feur in dem tach,
als ob mich brenn der reiffe.
Und winden, binden sunder sail
tuet si mich dann gen tage.
Ir mund all stund weckt mir die gail
mit seniklicher klage.

III
Also vertreib ich, liebe Gret,
die nacht bis an den morgen.
Dein zarter leib mein herz durchgeet,
das sing ich unverborgen.
Kom, höchster schatz! mich schreckt ain ratz mit grossem tratz,
davon ich dick erwache,
Die mir kain rue lat spät noch frue, lieb, dorzu tue,
damit das bettlin krache!
Die freud geud ich auf hohem stuel,
wenn das mein herz bedencket,
Das mich hoflich mein schöner buel
gen tag freuntlichen schrenket.

Übersetzung

I
Die dunkle Färbung an Okzident
lässt mich sehnsüchtig erschauern,
weil ich sie vermisse und verlassen
in der Nacht unbedeckt daliege.
Jene, die mich so innig mit weißen Ärmchen und hellen Händchen
liebevoll an sich schmiegen kann,
ist so weit weg, dass ich aus Beklommenheit in meinem Gesang
meine Klage nicht zu unterdrücken vermag.
Vom lauter Dehnen ächzen bei mir alle Glieder,
wenn ich um meine Liebste seufze,
die einzig und allein meine Begierde erweckt –
dazu kommt mein urwüchsig-natürliches Verlangen.

II
Hin und her wälze ich mich
in der Nacht, ohne zu schlafen;
aus der Ferne nähern sich mir
mit unwiderstehlichen Waffen begehrliche Gedanken.
Finde ich meinen Lieblich nicht an seinem Platz vor,
sooft ich nach ihm taste,
so gibt es gleich, ach, zu meiner Not Feuer auf dem Dach,
als würde mich Reif verbrennen.
Ohne Strick dreht und fesselt
sie mich dann bei Tagesanbruch.
Unablässig erweckt ihr Mund in mir die Lust
voll sehnsüchtiger Klage.

III
Auf diese Weise verbringe ich, liebe Grete,
die Nacht bis zum Morgen.
Dein holder Leib durchstößt mein Herz,
das singe ich ganz offen.
Komm, teuerster Schatz! Eine ,Ratte‘ schreckt mich so hartnäckig auf,
daß ich oft erwache.
Liebste, die du mir weder früh noch spät Ruhe gönnst, hilf mir doch,
daß das Bettchen kracht!
Vor Freude möchte ich von hoch oben hinausjubeln,
wenn ich mir im Herzen ausmale,
wie mich meine hübsche Geliebte
bei Tagesanbruch graziös und zärtlich umschlingt.

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