GedichtGedichte

Das Gedicht „Annabel Lee“ stammt aus der Feder von Edgar Allan Poe.

I.

Vor manchem, manchem Jahre her
Lebt ein Mägdlein, Annabel Lee,
In einem Königreich am Meer,
Und nichts verlangte sie,
Als lieben und von mir geliebt zu sein,
Nur dies verlangte sie.

Ich war ein Kind, und sie war ein Kind,
So selige gab es nie,
Und unsre Lieb’ war mehr als Lieb’,
Und die Engel beschützten sie;
Sie breiteten die Flügel aus
Über mich und Annabel Lee.

Doch einst geschah’s, schon lang, schon lang —
Die Nacht vergeß’ ich nie,
Daß ein kalter Wind löscht’ aus mein Kind,
Mein Licht, meine Annabel Lee.
Da kamen ihre Verwandten herab,
Die Engel, und holten sie,
Da trugen sie in ein dunkles Grab
Am Meer meine Annabel Lee.

Die Engel nicht halb so selig dort,
Beneideten mich und sie,
Ja darum, darum trugen sie fort
Meinen Liebling, Annabel Lee.
Der Engel Neid schuf mir dies Leid,
Der nicht mein Glück verzieh.

Doch unser Lieben ist stark geblieben,
Ist stark, ja stärker als sie.
Nicht soll es den Engeln gelingen, da droben,
Und nicht den Dämonen, von Fluthen umwoben,
Zu trennen, die brennen in ewigem Lieben,
Wie ich und Annabel Lee.

Denn immer, ja immer, erblick’ ich im Schimmer
Des Mondes Annabel Lee,
Und die Sterne sie zeigen in strahlendem Schweigen,
Mir die Augen von Annabel Lee.
Und nächtlich am Strande, den Wogen umschwellen,
Lausch’ ich, am Rande des Grabes, den Wellen,
Und klage und singe wie sie,
Von der schönsten Annabel Lee.

Übersetzung im Jahr 1857 durch die deutsche Schriftstellerin Luise von Plönnis (1803 - 1872).

II.

Es ist lange her, da lebte am Meer,
Ich sag euch nicht wo und wie -
Ein Mägdelein zart, von seltener Art,
Mit Namen Annabel Lee. Und das Mägdelein lebte für mich allein,
Und ich lebte allein für sie.

Ich war ein Kind, und sie war ein Kind,
Meine süße Annabel Lee,
Doch eine Liebe, so groß, so grenzenlos,
Wie die unsere, gab es nie.
Wir liebten uns so, daß die Engel darob
Beneideten mich und sie.

Da kam eines Tags aus den Wolken stracks
Ein Ungewitter und spie
Seinen Geifer aus, einen Höllengraus,
Und traf meine Annabel Lee.
Und es kam ein hochgeborener Lord,
Der holte auf immer sie von mir fort
In sein Reich am Meer und sperrte sie
Dort ein, meine Annabel Lee.
Ja, neidisch war die geflügelte Schar
Im Himmel auf mich und sie,
Und dies war der Grund, daß der Höllenmund
Des Sturms sein Verderben spie,
Bis sie erstarrte,
Und der Tod sie verscharrte,
Meine süße Annabel Lee.

Doch eine Liebe, so groß, so grenzenlos,
Wie die unsere, gab es nie.
So liebten Ältere nie,
So liebten Weisere nie,
Und wären die Engel auch noch so scheel,
Sie trennten doch nicht meine Seel′ von der Seel′
Der lieblichen Annabel Lee.

Wenn die Sterne aufgehn, so kann ich drin sehn
Die Äuglein der Annabel Lee,
Und noch jegliche Nacht hat mir Träume gebracht
Von der lieblichen Annabel Lee.
So ruh′ ich denn, bis der Morgen graut,
Allnächtlich bei meinem Liebchen traut
In des schäumenden Grabes Näh′,
An der See, an der brandenden See.

Übersetzung im Jahr 1891 durch die deutsche Schriftstellerin Hedwig Lachmann (1865 - 1918).

III.

Es sind viele, viele Jahre her.
      Daß am Meeresufer allhie
Ein Mädchen lebte – o fragt nicht mehr! –
      Mit Namen Annabel Lee.
Und dies Mädchen lebte für mich allein,
      Und ich lebt' alleine für sie.

Ich war ein Kind und sie war ein Kind
      Am Meeresufer allhie.
Doch wir liebten uns heißer, als Liebe liebt,
      Ich und schön Annabel Lee, –
Liebten uns so, daß die Engel im Blau
      Bedräueten mich und sie.

Und dies war der Grund, daß vor langer Zeit
      Am Meeresufer allhie
Ein schnaubender Wind aus der Wolke traf
      Die liebliche Annabel Lee;
So daß ihr hoher Verwandter kam
      Und den Leib der Erde verlieh,
Und sie schloß in ein Grab, so finster und kalt,
      Am Meeresufer allhie.

Die Engel, nicht halb so glücklich im Blau,
      Beneideten mich und sie –
Ja, Dies war der Grund (wie ein Jeder weiß
      Am Meeresufer allhie),
Daß der Wind aus der Wolke zur Nachtzeit brach,
      Schnaubend mir raubend schön Annabel Lee.

Doch stark wie unsere Liebe war
      Die Liebe viel Älterer nie,
      Die Liebe viel Weiserer nie;
Und weder der himmlischen Englein Schar,
      Noch der Meergeister Grollen allhie
Kann scheiden in Leiden mein Sein von dem Sein
      Der lieblichen Annabel Lee!

Kein Mondstrahl erblinkt, der mir Träume nicht bringt
      Von der lieblichen Annabel Lee!
Und kein Stern sich erhebt, drin das Auge nicht schwebt
      Der lieblichen Annabel Lee.
So ruh' ich bei Nacht, von der Reinen umwacht,
Der Einen, der Meinen, die ewig mir lacht,
      In dem Grab am Ufer allhie,
      Am tönenden Ufer hie.

Übersetzung im Jahr 1862 durch den deutschen Schriftsteller Adolf Strodtmann (1829 - 1879).

Analyse

Annabel Lee besteht aus 6 Strophen, von denen 3 sechszeilig, eine siebenzeilig und 2 achtzeilig sind, mit jeweils leicht unterschiedlichen Reimschemata. Die balladenartige Wiederholung von Wörtern und Sätzen erzeugt absichtlich die Wirkung tiefer Traurigkeit. Obwohl es sich technisch gesehen nicht um eine Ballade handelt, bezeichnet Poe sie als solche. Der Name Annabel Lee betont den "L"-Laut (Alliteration), ein häufiges Mittel, das der Dichter bei seinen weiblichen Figuren anwendet: Eulalie, Lenore, Ulalume, Morella, Ligeia.

Inhalt / Zusammenfassung

Der Erzähler des Gedichts beschreibt seine Liebe zu Annabel Lee, die vor vielen Jahren in einem "Königreich am Meer" begann. Obwohl sie jung waren, entbrannte ihre Liebe zueinander mit einer solchen Intensität, dass sogar die Engel neidisch wurden. Aus diesem Grund glaubt der Erzähler, dass die Seraphim ihren Tod verursacht haben. Dennoch ist ihre Liebe so stark, dass sie über das Grab hinausreicht, und der Erzähler glaubt, dass ihre beiden Seelen noch immer miteinander verbunden sind. Jede Nacht träumt der Erzähler von Annabel Lee und sieht die Helligkeit ihrer Augen in den Sternen. Jede Nacht legt sich der Erzähler an ihrer Seite in ihrem Grab am Meer nieder.

Hintergrund

Es ist umstritten, wer, wenn überhaupt, die "Vorlage" für "Annabel Lee" war. Obwohl viele Frauen vorgeschlagen wurden, ist Poes Frau Virginia Eliza Clemm Poe (1822 – 1847) eine der glaubwürdigeren Kandidatinnen. Es wurde 1849 geschrieben und erst kurz nach Poes Tod im selben Jahr (1849) veröffentlicht.

Das Gedicht "Annabel Lee" war eine Inspiration für Vladimir Nabokov, insbesondere für seinen Roman "Lolita" (1955), in dem sich der Erzähler als Kind in die todkranke Annabel Leigh "in einem Fürstentum am Meer" verliebt. Ursprünglich nannte Nabokov den Roman "Das Königreich am Meer".

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