GedichtGedichte

Das Gedicht „Der Zauberlehrling“ stammt aus der Feder von Johann Wolfgang von Goethe.

Hat der alte Hexenmeister
sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
auch nach meinem Willen leben.
Seine Wort' und Werke
Merkt ich und den Brauch,
und mit Geistesstärke
tu ich Wunder auch.

Walle! Walle!
Manche Strecke,
dass, zum Zwecke,
Wasser fliesse
und mit reichem, vollem Schwalle
zu dem Bade sich ergiesse.

Und nun komm, du alter Besen!
Nimm die schlechten Lumpenhüllen;
Bist schon lange Knecht gewesen;
Nun erfülle meinen Willen!
Auf zwei Beinen stehe,
Oben sei ein Kopf,
Eile nun und gehe
mit dem Wassertopf!

Walle! Walle!
Manche Strecke,
dass, zum Zwecke,
Wasser fliesse
und mit reichem, vollem Schwalle
zu dem Bade sich ergiesse.

Seht, er läuft zum Ufer nieder;
Wahrlich! ist schon an dem Flusse,
und mit Blitzesschnelle wieder
ist er hier mit raschem Gusse.
Schon zum zweiten Male!
Wie das Becken schwillt!
Wie sich jede Schale
voll mit Wasser füllt!

Stehe! Stehe!
Denn wir haben
deiner Gaben
vollgemessen! -
Ach, ich merk es! Wehe! wehe!
hab ich doch das Wort vergessen!

Ach, das Wort, worauf am Ende
er das wird, was er gewesen.
Ach, er läuft und bringt behende!
Wärst du doch der alte Besen!
Immer neue Güsse
bringt er schnell herein,
Ach! und hundert Flüsse
stürzen auf mich ein.

Nein, nicht länger
kann ich's lassen;
Will ihn fassen.
Das ist Tücke!
Ach! nun wird mir immer bänger!
Welche Miene! welche Blicke!

O du Ausgeburt der Hölle!
Soll das ganze Haus ersaufen?
Seh ich über jede Schwelle
doch schon Wasserströme laufen.
Ein verruchter Besen,
der nicht hören will!
Stock, der du gewesen,
steh doch wieder still!

Willst's am Ende
gar nicht lassen?
Will dich fassen,
will dich halten
und das alte Holz behende
mit dem scharfen Beile spalten.

Seht, da kommt er schleppend wieder!
Wie ich mich nur auf dich werfe,
gleich, o Kobold, liegst du nieder;
Krachend trifft die glatte Schärfe.
Wahrlich! brav getroffen!
Seht, er ist entzwei!
Und nun kann ich hoffen,
und ich atme frei!

Wehe! Wehe!
Beide Teile
stehn in Eile
schon als Knechte
völlig fertig in die Höhe!
Helft mir, ach! ihr hohen Mächte!

Und sie laufen! Nass und nässer
wird's im Saal und auf den Stufen.
Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister! hör mich rufen! -
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist gross!
Die ich rief, die Geister,
werd ich nun nicht los.

»In die Ecke,
Besen! Besen!
Seid's gewesen.
Denn als Geister
ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
erst hervor der alte Meister.«

Analyse

Die Ballade "Der Zauberlehrling" (1797; Epoche der Weimarer Klassik) besteht aus 14 Strophen, die durch Einrückung aufgeteilt sind in 7 eigentliche Strophen (mit 8 Versen) und 7 Strophen in Form eines unterschiedlichen Refrains (mit 6 Versen (klingende Kadenz) mit 4 zweihebigen und 2 vierhebigen Trochäen).
Der erste Teil jeder eigentlichen Strophe setzt sich aus 4 Versen (klingende Kadenz) mit vierhebigen Trochäen zusammen, gefolgt von 4 weiteren Versen (abwechselnd klingende und stumpfe Kadenzen) mit dreihebigen Trochäen.

Das Reimschema der eigentlichen Strophen lautet [abab cdcd] (jeweils im Kreuzreim) und das des Refrainteils ist [effgeg].

Die Refrainteile lassen im Kopf des Lesers das Gefühl und das Bild von Wasser entstehen, welches den Anschein hat, im Raum zu plätschern. (Walle, Walle: der häufige Gebrauch des Konsonanten "L"; Dass zum Zwecke Wasser fließe: Dazu viele S- und Z-Laute, um das Plätschern und Fließen des Wassers klangbildlich darzustellen).

Inhalt / Zusammenfassung

Das Gedicht beginnt damit, dass ein alter Zauberer seine Werkstatt verlässt und seinen jungen Lehrling mit der Erledigung einiger lästiger Aufgaben zurücklässt. Der Auszubildende ist es leid, Wasser mit Eimern zu holen, und verzaubert einen Besen, der die Arbeit für ihn erledigen soll. Bald ist der Boden mit Wasser überschwemmt, und der Azubi stellt fest, dass er den Besen nicht aufhalten kann, weil er die dafür erforderliche Magie nicht beherrscht.
Er beschließt, den Besen mit einer Axt in zwei Teile zu spalten. Schnell erwachen die beiden Teile zum Leben und machen sich (mit doppelter Geschwindigkeit) wieder an die Arbeit. Der Meister kommt schließlich zurück und schickt, mit dem richtigen Zauberspruch, die Besen in die Ecke.

Interpretation

Die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag veröffentlichte mit "Against Interpretation" (1966) einen einflussreichen Essay.
In dem Aufsatz werden 2 Arten von Kunstkritik und -theorie unterschieden: die formalistische Interpretation und die inhaltliche Interpretation. Der Essay erkennt die moderne Interpretation nicht an und ist der Meinung, dass ihr zu viel Bedeutung beigemessen wird, anstatt die sinnlichen Aspekte der künstlerischen Arbeit zu erforschen und eine beschreibende Terminologie zu entwickeln.

Im Laufe des Essays werden mehrere grundlegende Argumente anführen:

"Die Interpretation ist ein radikales Mittel, um einen alten Text, der sehr wertvoll ist, zu bewahren, indem man ihn wieder aufbereitet. Der Interpreter verändert den Text, ohne ihn zu zerstören oder umzuschreiben. Aber er kann dies nicht zugeben. Er behauptet nur, sie verständlich zu machen, indem er ihre wahre Bedeutung aufdeckt."

Hintergrund

Das Motiv des Zauberlehrlings ist viel älter als Goethes Gedicht. Aus einem Brief Goethes ist bekannt, dass er sich an Lucianus orientiert hat. Die älteste Version eines zum Leben erweckten Gegenstands, in diesem Fall eines Mörsers, findet sich in den Philopseudes („Der Lügenfreund oder der Ungläubige“), einer Rahmenerzählung von Lucianus von Samosata aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. Die Absicht von Lucianus' Geschichte ist jedoch nicht, "nachzudenken, bevor man anfängt", sondern vielmehr, jeglichen Aberglauben zu verspotten.

Als mögliche Vorlage oder Inspiration kommt auch eine Episode in Betracht, die vom Prager Golem des Rabbi Löw (um 1520 - 1609) überliefert ist. Dabei handelt es sich um ein von Weisen mittels Buchstabenmystik aus Lehm gebildetes, stummes, menschenähnliches Wesen, das oft gewaltige Kraft besitzt und Aufträge ausführen kann.

Rezeption

Goethes "Der Zauberlehrling" ist im deutschsprachigen Raum sehr bekannt. Die Zeilen, in denen der Lehrling den zurückkehrenden Zauberer anfleht, ihm bei dem Schlamassel, den er angerichtet hat, zu helfen, sind zu einem Klischee bzw. Redewendung geworden, insbesondere die Zeile "Die Geister, die ich rief", eine vereinfachte Version einer von Goethes Zeilen "Die ich rief, die Geister, / Werd' ich nun nicht los", die oft verwendet wird, um jemanden zu beschreiben, der Hilfe oder Verbündete herbeiruft, die der Einzelne nicht kontrollieren kann.

Im gewissen Sinne ist der Zauberlehrling als existenzphilosophische Parabel über die Risiken, die mit der Bildung, Herrschaft und Arbeit des Menschen verbunden sind, das Gegenstück zu Prometheus.

Das Gedicht handelt u.a. vom Fortschritt: Inwieweit können die Menschen von ihren eigenen Schöpfungen "überfordert" werden?

Karl Marx und Friedrich Engels spielen auf den ersten Seiten des "Manifests der Kommunistischen Partei" (1848) implizit, aber deutlich darauf an und schreiben:

"Die bürgerlichen Produktions- und Austauschverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die wie durch Zauberei so mächtige Produktions- und Austauschmittel hervorgebracht hat, gleicht dem Zauberer, der die höllischen Mächte, die er heraufbeschworen hat, nicht mehr beherrschen kann."

Der Text des Gedichts steht auch als mustergültig gestaltetes PDF Der Zauberlehrling zum Drucken bereit.

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