GedichtGedichte

Das Gedicht „Die jüdische Mutter“ stammt aus der Feder von Gertrud Kolmar.

Ich habe nur dies Kind, das ich in Not geboren,
Bin eine arme Witwe, Kleidermacherin.
Mein Kindlein ist ein Mensch, hat Nase, Mund und Ohren,
Und schöne dunkle Augen leuchten immer zu mir hin.

Es möchte gerne lernen, rechnen, lesen, schreiben,
Verwirft die Federn nicht und hält die Hefte blank,
Will gern sein kleines Werk mit allen andern treiben.
Der Lehrer setzt es abseits auf die Judenbank …

Denn es ist eines nur, und andre sind die Vielen;
Sie hänseln es und sprühn ihm Tinte aufs Gewand.
Es möchte oft im Hof mit einer Freundin spielen,
Doch jede stößt es fort und weigert ihm die Hand.

Ist eine Tür beschmiert, ein Bilderglas zersplittert,
Ein Riegel losgeschraubt: der Jud hat's angestellt.
Ich kann nicht weinen; nur mein Herz schluchzt zornig und verbittert -
Mein Kind, mein Kind trägt ja die Sünden eurer ganzen Welt,

Neid, Bosheit, feige Wut, was euer Antlitz schändet,
Auf Schultern, da das Kleid noch blaue Engelsflügel deckt.
Ihr, die ihr eure eigenen Geschöpfe so verblendet,
Glaubt ihr, wenn ihr dem meinen stumme Tränen weckt,

Glaubt ihr, es sei gerecht, in Kirchen mitzubeten,
Behaglich anzunehmen, was der Pfarrer spricht,
Dann hinzugehn und diese Seele wie ein Tier zu treten?
Ach, auch das Tier zertritt der Wohlbedachte nicht!

Ihr lasst's von Rangenhand mit scharfen Kieseln schmeißen,
Ihr lasst es scheu und einsam in den Winkeln stehn,
Ihr wollt sein neues buntes Schürzchen ihm zerreißen,
Ihr lasst's in seinem Buch die eingemalten Hakenkreuze sehn.

Ihr! Ihr! O Ehr- und Würdenmänner, schlimmer als Gelichter
Ich darf euch nicht verfluchen, daß ihr siecht und dorrt;
Denn noch in dieses trübe Haus blickt streng der Gott der Richter.
Steh' auf, mein Kind, und klage an mit deinem jungen Wort! -

Es schläft. Gewähr' euch Gott, dass nicht in seinen Träumen
Schon Kummer sprosse, bittres Korn, das ihr gesät.
Ich will zur Lampe rücken, wieder Röcke säumen,
Nur eine arme Jüdin, die für Geld euch Kleider näht.

Hinweis: Range: ursprüngliche Bedeutung, Schimpfwort, femininum: läufiges Mutterschwein; mundartlich, übertragen: unartiges Kind.

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