GedichtGedichte

Das Gedicht „Die Stadt“ stammt aus der Feder von Gertrud Kolmar.

Sie gingen
Durch den nebelleicht kühlen Wintermorgen, Liebende,
Hand in Hand.
Erde bröckelte hart, gefrorene Pfütze sprang gläsern unter den Sohlen.
Drunten am Uferwege
Saß einer in brauner Sammetjoppe vor seiner Staffelei
Und malte die blattlos hängende Weide.
Kinder pirschten neugierig näher,
Und die Großen hielten fur Augenblicke mit ihrem Gange ein, tadelten, lobten.
An dem algengrünen, glitschigen Stege
Schwamm ein lecker, verrotteter Kahn.
Drei Schwäne über den Wellen
Bogen die stengelschlanken Hälse, schweigend, entfalteten sich, blühten.
Die Frau brach Brot und warf es weit in die Flut.

Unter starrenden Eichen,
Die Äste, schwarz, verrenkt, wie gemarterte Glieder streckten,
Schritten sie an den fröstelnden Rasen, efeuumwucherten
Pfeilern verschlossener Gärten dahin.
Als sie die lange steinerne Brücke betraten,
Riß Sonne den Nebel von sich wie ein Gewand,
Und die Stadt stieg auf, schräg hinter dem breiten Becken des Flusses.
Ineinander, übereinander schoben sich Dächer, schwarzgrau
glänzend wie Dohlengefieder, einzelne, höhere patinagrün; goldene
Turmhauben blitzten.
Möwen umkreischten, hungrig flatternde Bettler, das Brückengeländer.
Sie waren, hinüber
Und schauten vor mürrisch alltäglichem Hause den Knaben
zu, die ihrem gelben Hund die wunde, blutende Pfote verbanden.
Frauen mit Marktnetzen, Henkelkörben blickten vorüber-
eilend die müßigen Fremden knapp und mißtrauisch an,
Verschwanden hinter den Türen düsterer kleiner murkliger Läden.

Lauter und stärker, wohlhäbiger, fülliger wurden die Straßen.
Stattliche Gasthöfe luden mit kräftigen Lettern ein;
Rötliche Backsteinmauern standen machtvoll-gewichtig da
gleich Ratsherren alter Zeit mit Puffenwams und
Barett und prunkender Schaube.
Bahnen lärmten fröhlich, bimmelten flink, wie ein Gassen-
junge am Parktor, entwischten.
Männer in dicken, warmen Mänteln beredeten rauchend
und lebhaft schreitend Handel und Wandel,
Und bald fing die Garküche an, ihren Stand mit nahrhaften
Bratgerüchen zu rühmen.
Laden reihte an Laden sich,
Bot zartes, saftiges Fleisch und Wildbret, Fische, geräucherten Aal und
Sprotten,
Bot knusprig braunes längliches Brot, süß, mit Korinthen
gefüllt, und herbes, das mehlüberstäubt oder mit Salz
und Kümmel bestreut war.
Zwischen zwei Kupferbechern duckte ein winziges chine-
sisches Teehaus von kirschrot gelacktem Holze sein
geschweiftes vergoldetes Dach.
Doch das Gewölk, da um teures Geld Tränke und Salben
und Pulver gemengt und verabreicht werden,
Wies durchs Fenster den Greis, wie lebend, gebückt im Sessel,
In wollener Kutte, mit schlohweiß wallendem Bart;
Er schloss die Lider.
Hinter ihm grinste ein langes scheußliches Beingeripp mit
Totenschädels höhnischen Augenhöhlen und Zähnen,
Die glitzernde Sense in einer Hand und mit der andern des
Sinkenden Schulter krallend.
Eine Uhr zeigte Mitternacht.
Da erschrak die Frau und griff nach dem Manne -
Er nickte und lächelte aber;
Denn er sah nichts als ihr finsteres Haar und ihr blasses
dunkeläugiges Antlitz.

Hinweis: Joppe (auch Jobs oder Juppe, in Schweizerdeutsch auch Tschoope) – eine taillenlose Männerjacke aus dickem Wollstoff; aus Flanell oder Loden als Hausjacke. Sie ist traditioneller Bestandteil der bayerischen Männertracht. Der Begriff stammt vom arabischen „Dschubba“ für „Obergewand“.
Das Wams (Plural Wämser) wurde als Teil der männlichen und später auch weiblichen Oberbekleidung während des Mittelalters und der frühen Neuzeit bis um 1700 getragen und war ein Vorläufer der heutigen Weste.
puffen: (oft als Stoff oder Tuch) mehr Volumen bekommen, weil Luft darunter kommt und es wölbt; bauschen.
Die Schaube, von arabisch Dschubbe,[1] ist ein weiter, oft glockiger, vorn offener, ungegürteter Überrock, der im 15. Jahrhundert aufkam, um den darunter getragenen Scheckenrock sichtbar zu machen.

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