GedichtGedichte

Das Gedicht „Ich spür ain tier“ stammt aus der Feder von Oswald von Wolkenstein.

I
Ich spür ain tyer
mit füssen brait gar scharpff sind jm die horen
das wil mich trettenjn die erd
und stoßlichen durch boren
den slund so hat es gen mir kert
als ob ich jm für hunger sey beschert

Und nahet schier
dem hertzen mein in befündlichem getöte
dem tier ich nicht geweichen mag
owe der großen nöte
seyd all meim jar zu einem tag
geschübert sein die ich ye hab verzert
Ich bin erfordert an den tantz
do mir geweiset würt
all meiner sünd ein grosser krantz
der rechnung mir gebürt
doch wil es got der ainig man
so wirt mir pald ein strich da durch getan

II
Erst deucht mich wol
solt ich newr leben eines jares lenge
vernünftikich in diser welt
so wolt ich machen enge
mein schuld mit klainem widergelt
der ich laider gross von stund bezalen muss

Darumb ist vol
das hertzen mein von engestlichen sorgen
und ist der tod die mynst gezalt
o sel wo bistu morgen
wer ist dein tröstlich ufenthalt
wenn du verraiten solt mit haisser buss

0 kinder freund gesellen rain
wo ist ewr hilff und rat
jr nempt das gut lat mich allain
hin varen in das bad
da alle müntz hat klainen werd
newr gute werck ob ich der hett gemert

III
Allmächtikait
an anefangk noch end bys mein gelaite
durch all dein barmung göttlich gross
das mich nicht überraite
der lucifer und sein genos
da mit ich werd enzuckt der helle slauch

Maria mayd
erman dein liebes kind des großen leiden
seyt er all cristan hat erlost
so weil mich ouch nicht meyden
und durch sein marter werd getrost
wenn mir die sel fleusst von des leibes drouch

0 welt nu gib mir deinen lon
trag hin vergiß mein bald
hett ich dem herren für dich schon
gedient jn wildem wald
so für ich wol die rechten far
got schepffer leucht mir Wolkensteiner klar

Übersetzung

I
Ich spür’ ein Tier
mit Füßen breit, und scharf ist jedes Horn.
Das will mich treten in die Erd’
und stoßen und durchbohr’n.
Den Schlund hat es mir zugekehrt,
als sei ich ihm als Fraß beschert.

Schnell naht das Tier
sich meinem Herzen, denn es will mich töten;
seh’, dass ich nicht entkommen werd’,
ich bin in großen Nöten.
So sind all’ meine Jahr’, gelebt auf Erd’
geschrumpft auf einen Tag, die and’ren sind verzehrt.

Ich bin gefordert zu dem Tanz,
mir werden übergeben
all’ meine Sünden als ein Kranz,
die Summ’ von meinem Leben.
Doch will es Gott, der Eine Herr,
so ist die Schuld mit einem Strich nicht mehr.

II
Ich fänd’ es toll,
könnt’ ich ein weit’res Jahr noch haben,
vernünftig leben auf der Erd’
und zahlen kleine Raten,
dass meine Schuld verkleinert werd’
die ich jetzt leider ganz bezahlen soll.

Darum ist voll
mein Herz von Ängsten und von Sorgen.
Mein Tod, der ist dabei der kleinste Teil.
O Seel’, wo bist du morgen?
Wo ist dein Aufenthalt, dein Trost, dein Heil
wenn unterwegs du buß- und reuevoll?

Wo, Kinder, Freund’, Gefährten mein,
sind eure Hilf’ und Rat?
Ihr erbt mein Gut, lasst mich allein
fahr’n in das Büßerbad,
wo Münzen haben kleinen Wert,
nur gute Werke, hätt’ ich die doch nur vermehrt.

III
Allmächt’ger Gott,
ohn’ Anfang oder End’, in allen Stunden,
sei mein Begleiter und mein Schild gar,
dass ich nicht werd’ überwunden
von Luzifer und seiner Schar,
damit ich werd’ entgeh’n der Hölle Banden.

Maria, hold,
erinn’re deinen lieben Sohn der Leiden!
Wie er die Christen also erlöst,
so soll er mich auch nicht meiden.
Durch seine Marter werd’ ich getröst,
wenn meine Seele flieht aus des Leibes Banden.

O Welt, nun gib mir deinen Lohn!
Trag mich fort, vergiss mich bald!
Hätt’ ich dem Herrn statt deiner schon
gedient im wilden Wald,
so wär’ ich jetzt wohl an der rechten Stell’.
Gott, Schöpfer, leucht mir Wolkensteiner hell!

So ging’ ich meine Pfade ohn’ Gefahr.
Gott, Schöpfer, leucht mir Wolkensteiner klar!

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