GedichtGedichte

Das Gedicht „Nemt, vrouwe, disen kranz“ (übersetzt: Nehmt, Herrin, diesen Kranz) stammt aus der Feder von Walther von der Vogelweide.

"Nemt, vrouwe, disen kranz:"
alsô sprach ich zeiner wol getânen maget:
"Sô zieret ir den tanz,
mit den schœnen bluomen, als ir si ûfe traget.
hete ich vil edele gesteine,
daz müeste ûf iuwer houbet,
ob ir mirs geloubet.
sêt mîne triuwe, daz ichz meine."

Si nam daz ich ir bôt,
einem kinde vil gelîch daz êre hât.
ir wangen wurden rôt,
sam diu rôse, dâ si bî der liljen stât.
dô erschamten sich ir liehten ougen:
doch neic si mir schône.
daz wart mir ze lône:
wirt mirs iht mêr, daz trage ich tougen.

"Vrouwe, ir sît sô wol getân,
daz ich iu mîn schapel gerne geben wil,
sô ichz aller beste hân.
wîzer unde rôter bluomen weiz ich vil:
die stênt niht verre in jener heide.
dâ si schône entspringent
und die vogele singent,
dâ suln wir si brechen beide."

Mich dûhte daz mir nie
lieber wurde, danne mir ze muote was.
die bluomenvielen ie
vondem boumebî uns nider an daz gras.
seht, dô muoste ich von vreuden lachen.
dô ich sô wünnecliche
was in troume rîche,
dô tagete ez und muose ich wachen.

Mir ist von ir geschehen,
daz ich disen sumer allen meiden muoz
vaste under dougen sehen:
lîhte wirt mir einiu: sôst mir sorgen buoz.
Waz ob si gêt an disem tanze?
vrouwe, durch iuwer güete
rucket ûf die hüete.
ouwê gesæhe ich si under kranze!

Hochdeutsche Version

"Nehmt Herrin, diesen Kranz",
so sprach ich zu einem wohlgestalten Mädchen,
"dann schmückt Ihr den Tanz
mit den schönen Blumen, wie Ihr sie tragt.
Hätte ich viel edles Gestein,
das sollte auf Euer Haupt,
wenn Ihr mir's glauben wollt.
Seht meine Treue, dass ich es ehrlich meine.

Ihr seid so wohlgeschaffen, dass ich Euch meinen
Blumenkranz gerne geben will,
den schönsten, den ich habe.
Weiße und rote Blumen weiß ich viele,
die stehen da fern auf jener Heide,
wo sie herrlich aufsprießen
und die kleinen Vögel singen,
dort wollen wir beide sie pflücken."

Sie nahm was ich ihr anbot, ganz wie ein
junges Mädchen von höfischem Anstand.
Ihre Wangen wurden rot
gleich der Rose, wo sie bei den Lilien steht.
Darüber wurden ihre strahlenden Augen voll
Scham. Dabei verneigte sie sich vor mir sehr
anmutig. Das ward mir zum Lohn. Wird mir
etwas mehr zuteil werden, das halte ich geheim.

Mir ist durch sie etwas widerfahren,
so dass ich diesen Sommer allen Mädchen
tief in die Augen sehen muss: Vielleicht begegnet
mir die eine, dann ist meinem Kummer abgeholfen.
Wie, wenn sie in diesem Tanze schreitet?
"Herrinnen, seid so gütig,
rückt die Hüte höher!"
Weh mir, sähe ich sie mit einem Kranz!

Mir dünkte, dass ich noch nie in meinem
Herzen glücklicher war als damals.
Die Blüten fielen immerzu
von dem Baume zu uns nieder ins Gras.
Seht, da musste ich vor Freude lachen,
als ich, so beglückt,
im Traume reich war.
Da tagt es - und ich muss erwachen!

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