GedichtGedichte

Das Gedicht „Wiener Elegien“ stammt aus der Feder von Ferdinand von Saar.

I.

Also seh' ich dich wieder, du schimmernde Stadt an der Donau,
   Die ich seit Jahren bereits nur mehr im Fluge gestreift!
Traut umfing mich ein ländliches Heim, es heischte die Muse
   Ernsteste Sammlung – und so hielt ich mich selber verbannt.
Jetzt, am Abend des Lebens, nach fast vollendetem Tagwerk,
   Treibt Erinnrung mich, treibt mich die Sehnsucht zurück.
Freilich bist du nicht mehr, die du warst! Es gingen die Zeiten
   Mit veränderndem Lauf über dein Weichbild dahin.
Altes, Gewohntes versank, daran mir die Seele gehangen,
   Und ein Fremdling längst bin ich dem neuen Geschlecht.
Aber es weht noch die Luft herüber vom Kahlengebirge,
   Die ich geatmet als Kind, die mich zum Manne gereift;
Noch zu gewahren dem Aug' sind Reste entschwundener Tage,
   Still wehmütig erfreun sie des Elegikers Herz.
Und so sei mir gegrüßt! Für immer nun bleib' ich der Deine,
   Ob du auch nie mich vermißt, hältst du mich liebend doch fest.
Singen will ich ein Lied dir noch als treuster der Söhne –
   Und wo die Wiege mir stand, find' ich zuletzt auch ein Grab!

II.

Ja, ich sehe dich jetzt, wie du im Schmucke des Frühlings
   Weithin leuchtend dich dehnst, herrlicher Schönheit bewußt.
Einzig bist du fürwahr! Wer zählt die ragenden Bauten,
   Die sich schließen zum Ring, edel und prächtig zugleich?
Hier, ein steinern Juwel, der jüngste der Dome; zum Himmel
   Strebt des Doppelgetürms zierliches Stabwerk hinan;
Dort, breitfrontig, mit ernsten Arkaden das mächtige Rathaus –
   Und, quadrigengekrönt, attisches Marmorgebälk.
Hochweg träumen im Äther die Kuppeln der beiden Museen,
   Während sich reizvoll verjüngt Habsburgs ehrwürdiges Heim.
Und so setzt es sich fort in der Runde, nur lieblich durchbrochen
   Von zartfunkelndem Grün offenen Gartengehegs.
Wahrlich, ein Bild, entzückend zu schaun für jeden Betrachter,
   Welchem Land er entstammt, freudig bewundert er hier;
Gerne vergißt der Hesperier selbst die klassische Heimat –
   Und an der wärmeren Pracht bricht sich der nordische Stolz.

III.

Dennoch, wie sehr und wie oft dich mein Auge bewundert, du sprichst mir
   Nicht mehr zum Herzen wie einst, weithin gebreitete Stadt;
Nicht mehr wie einst, da wallumgürtet du noch mit den alten
   Schwärzlichen Häusern geragt über das grüne Glacis:
Eng und gedrückt, voll gewundener Gassen und düsterer Winkel –
   Aber es wogte in dir fröhlich ein fröhliches Volk.
Leicht gesinnt und bewegt, abhold den Mühen des Daseins,
   Lebt' es harmlos dahin, wie ein empfängliches Kind.
Heute bewegt es sich ernster und weniger laut durch die Straßen,
   Wo sich die Menge nicht staut, sondern zerstreut und verliert.
Sorgen haben gefurcht die Stirnen der Männer, es blicken
   Schärfer, gewitzter als sonst kühl mich die Jünglinge an;
Geistiger Ziele Bewußtsein, der Stolz befreiender Arbeit
   Wehn, gleich fröstelndem Hauch, selbst um die Reize der Fraun.
Reicher, beschwingter sind Handel und Wandel, doch fehlt das Behagen,
   Das am Erworbenen sich festen Besitzes erfreut.
Prunkende Häuser und Plätze gewahr' ich in stummer Verödung –
   Und kein Jubel erschallt mehr aus der menschlichen Brust….
Ja, du hast dich verändert, ich fühl' es. Bist du auch schöner,
   Bist du auch größer, als einst – bist du doch nicht mehr mein Wien!

IV.

Ihr nur, schattige Gassen und hellbeschienene Plätze
   Tief im Innren der Stadt – ihr seid allein mir noch Wien!
O, wie hebt sich die Brust, nun ich euch wieder betrete,
   Und bei jeglichem Schritt Liebes, Bekanntes mich grüßt!
Ja, hier pulst noch das Leben! An alten Palästen und Häusern–
   An Sankt Stephan vorbei flutet und wogt es wie einst.
Treibend im bunten Gewühl verschärfen sich alle Kontraste,
   Und der einzelne wird hier erst zur vollen Gestalt.
Typen treten hervor, es waltet die Seele des Volkes,
   Die im Wechsel der Zeit dennoch unsterblich sich weist;
Waltet im Drang nach Genuß, in gern verweilender Schaulust,
   Welche die Läden umdrängt, während die Stunde entflieht.
Lieblich entfaltet die Wienerin noch den gepriesenen Zauber,
   Ob im schleppenden Kleid, ob im geschürzten sie geht;
Mit begehrendem Blick verfolgt sie das männliche Auge,
   Und der geflügelte Gott flattert wie früher umher. –
Freilich vollzieht sich auch hier stets rascher ein Wandel der Dinge,
   Fast mit jeglichem Jahr schwindet ein Reiz aus dem Bild;
Aber noch immer behauptet sich Altes inmitten des Neuen,
   Und Vergangenheit träumt still in die Zukunft hinein.

V.

Mutet auch alles mich an im alten Bezirke der Städter,
   Auf der »Freiung« am »Hof« fühl' ich ergriffen mein Herz.
Dort spricht jeglicher Stein zu mir und weckt die Erinnrung –
   Längst vergangene Zeit drängt sich lebendig heran.
Sieh: da ragt sie ja noch, die schlichte, breitgieblige Kirche,
   Ragt der Schottenabtei menschendurchwandelter Bau.
Zweimal des Tages empfing er auch mich; die Bücher der Schule
   Unter dem schützenden Arm, eilt' ich zur Klasse hinauf,
Wo, in die Reihen der Bänke gepfercht, sich ein lärmendes Völklein
   Neckte und balgte und stieß, bis der Professor erschien.
Auf dem Haupt die Tonsur, umwallt von dunkler Soutane,
   Zum Katheder empor schritt er mit ernstem Gesicht.
Und nun ging es, o Qual! an lateinische, griechische Pensa,
   Bebenden Fingers gezählt ward des Hexameters Maß.
Marternde Sorgen des Schülers, die Angst vor der schlechteren Note –
   Jetzt noch fühl' ich sie nach, schreit' ich hier sinnend vorbei!
Aber die selige Lust auch, wenn endlich die schallende Glocke,
   Froh verkündend den Schluß, uns aus den Bänken entließ.
Hei, wie drängten wir fort! Erst still, in geschlossenen Reihen –
   Doch sie lösten gar bald jubelnd in Schwärme sich auf.
Lockte nicht dort auf bevölkertem Markt bei zarten Gemüsen,
   Duftenden Blumen das Obst, feilschend wie heute umdrängt?
Schon der Anblick entzückte des reichen, des köstlichen Segens,
   Wie er dem laufenden Jahr lieblich im Wechsel entsproß.
Ach, im Frühling die ersten, die rötlichen Kirschen – im Sommer
   Aprikosen wie Gold neben der Pfirsiche Samt;
Beeren in Hülle und Fülle – und saftige Birnen und Pflaumen,
   Bis sich die Mispel im Herbst leuchtenden Trauben gesellt.
Und die Äpfel sodann! In allen Formen und Größen –
   In der verschiedensten Pracht waren sie ringsum zu schaun;
Berge von Nüssen nicht minder – und trockene Feigen und Datteln,
   Wie sie Sankt Nikolaus artigen Kindern beschert.
O du herrlicher Winter mit lustigem Flockengewirbel!
   Und, o Weihnacht, du, schönstes, beglückendstes Fest!
Ha! Da standen sie schon, geräumig, die hölzernen Buden,
   Wo die Schätze sich all' wiesen in flitterndem Glanz.
Harzige Bäume und Bäumchen mit farbigen Ketten behangen,
   Kerzchen, niedlich und bunt, würziges Zuckergebäck;
Spielzeug jeglicher Art, Hutschpferde und knallende Peitschen,
   Schachteln mit bleiernem Krieg, Trommel und Seitengewehr:
Tand, der die Kleinen entzückte, und doch mit begehrlichem Auge
   Noch von den Größren gestreift ward bei der hastigen Schau.
Freilich, sie schreckte der »Krampus« nicht mehr, der mit drohender Rute,
   Fröhlich begafft und belacht, dunkel im Schimmernden stand.
Aber mit Andacht erfüllten uns alle die lieblichen Ställchen,
   Wo in der Krippe das Kind lag, von Maria bewacht;
Es'lein und Öchslein dabei, die Könige und auch die Hirten –
   Und aus Rauschgold ein Stern flimmerte über dem Bild.
Heilige Schauer der Kindheit! Unschuldige Wünsche des Knaben,
   Welche die Mutter ihm stets freudigen Herzens gewährt!'
Selige Zeit, wo bist du? – Ist sie denn wirklich entschwunden?
   Nein: wenn frostig der Platz mit dem sich neigenden Jahr;
Wenn der Kastanien Gedüft entsteigt den röstenden Pfannen,
   Und die Hökrin umhüllt sorglicher Busen und Haupt:
Stehen die Buden auch da, und durch die Nebel des Abends
   Schimmert das harzige Grün, leuchtet der heilige Christ.
Immer noch gibt es verlangende Kinder und liebende Mütter –
   Und im Kreislauf erhält ewig das Leben sich jung!

VI.

Aber so klein du auch warst, so eng umschlossen, mein altes
   Trauliches Wien: es ging Großes aus dir doch hervor!
Alles, was heute verklärt aufragt in Erz und in Marmor,
   Redend als Denkmal zum Volk, lebte und wirkte in dir.
Bargen die schützenden Wälle, die alten, schlichten Paläste
   Denn nicht Österreichs Ruhm? Österreichs Liebe und Stolz?
Fuhr Maria Theresia nicht mit Lust durch die Straßen,
   Die ihr erleuchteter Sohn oft als ein Bürger besucht?
Waren nicht heimisch in ihnen die Sieger von Zentha und Aspern,
   Denen als dritter zuletzt der von Novara gefolgt?
Wie? Und schufen in ärmlichsten Häusern nicht Haydn und Mozart?
   Nicht Beethoven und schritt mächtigen Hauptes einher?
Klangen im engeren Weichbild zuerst nicht die Lieder von Schubert,
   Dessen behäbiger Sinn nie sich ins Weite verlangt?
Und Grillparzer? Empfing er die Weihe der tragischen Muse
   Nicht im Bann der Bastei, die er stets einsam betrat?
Blickte mit schalkischen Aug' nicht Bauernfeld auf die Phäaken,
   Während in Raimunds Gemüt still der »Verschwender« entstand,
Lenaus melodische Schwermut die Herzen ergriff und entzückte –
   Und Grüns Lerchengesang schmetterte über der Stadt?!
Scheltet mir nimmer Altwien, ihr Neuern, und lasset euch sagen.
   War es ein Capua auch, war es doch keines des Geists.

VII.

Andere mögen dich jetzt im steigenden Sommer verlassen,
   Ich doch bleibe dir treu, strahlendurchfunkelte Stadt.
Nicht verlangt es mich mehr nach himmelan ragenden Gletschern,
   Nicht nach des nordischen Meers wogenumbraustem Gestad.
Gern verträum' ich die Tage im Dunstkreis der stilleren Straßen,
   Quälen auch Hitze und Staub, gibt's doch Oasen genug.
Wohlig schlürft sich am Morgen der Kaffee im Runde des Stadtparks,
   Liebliches Blumenarom mengt der Zigarre sich bei.
Brennt die Sonne dann heißer, so find' ich schattige Gärten,
   Wo ein erquickliches Buch still und gesammelt man liest.
Ja, dann nimmst du mich auf, Erschloßner vom »Schätzer der Menschheit«,
   In deiner breiten Alleen wipfelumdunkelte Ruh';
Oder auch du, Belvedere, mit zierlich gehegten Terrassen,
   Still ins Weite hinaus schweift dort der sinnende Blick.
Traulich empfängt mich Schönbrunn, es winkt mir der gastliche Prater,
   Wo dem dürstenden Mann froh sich der Abend beschließt.
Sehn' ich mich dennoch nach kühleren Schatten, nach frischeren Lüften,
   Führen auch Schienen und Dampf rasch mich ins Volle hinein;
Rasch in ein grünes Gebiet mit herrlichen Eichen und Buchen –
   Tief in des Wienerwalds quellendurchrieselte Pracht.
Mögen doch andere jetzt dich pilgernd verlassen – ich bleibe:
   Liegt das Gute so nah', wünsch' ich mir Besseres nicht!

VIII.

Oft auch, wenn mit rötlichem Schimmer der Abend hereinbricht
   Und aufatmet die Stadt, wandl' ich betrachtend umher;
Wandle nach rechts hin, oder nach links hin durch jene Bezirke,
   Die sich im Laufe der Zeit, wachsend zum Ganzen vereint.
Sieh, da sind sie ja noch, die Vorstadtstraßen, die alten,
   Die jetzt mit schwellender Fracht klingelnd die Trambahn befährt.
Freilich prunken auch sie schon mit neuem und neuestem Wesen,
   Aber ich spüre den Hauch früherer Tage darin.
Frohsinn herrscht hier noch, es wartet der Segen der Arbeit,
   Die den Genuß nicht verwehrt, weil man sie reichlich belohnt.
Satte Gesichter ringsum, beleibte Männer und Frauen,
   Rosige Mädchen und hold blühendes Kindergeschlecht.
Doch je weiter ich schreite, je mehr verwirrt sich der Anblick;
   Menschen in steigender Zahl, aber auch wüster das Bild.
Wimmelnd bevölkert sind Gassen und Häuser, aus zahllosen Fenstern
   Blicken die Sorgen und Mühn ärmlichen Lebens hervor.
Hier, in billigster Miete, wohnt eng der kleine Beamte,
   Haust bescheidene Kunst, emsig bei Tag und bei Nacht;
Hier erwirbt auch die Frau, es erwirbt die älteste Tochter,
   Ob sie die Feder bereits, oder die Nadel noch führt.
Kleine Fabriken gewahrt man, das kleine und kleinste Gewerbe,
   Das verdrossen und stumpf lebt von der Hand in den Mund.
Aber der Krämer gedeiht, es gedeiht der schmunzelnde Gastwirt,
   Dem das Gartenlokal immer des Abends gefüllt. –
Doch schon weist sich die Not im härtesten Kampf um ein Dasein,
   Das, des Atmens nicht wert, dennoch Befriedigung heischt.
Sieh nur die Häuser! Neubauten mit rissigen, bröckelnden Simsen;
   In noch feuchtem Gelaß richtet das Elend sich ein.
Nieder schlägt sich der Rauch aus ragenden Schloten der Arbeit,
   Welche Maschinen zunächst, aber auch Hände verlangt.
Düster färbt sie den Himmel, die Mauern, die Menschen und treibt sie
   Zu ingrimmigem Haß, weil sie verzehrt, nicht ernährt.
Blick' in die Buden und Schenken! Bestäubte, verdorbene Waren,
   Die der Hunger verschlingt, wenn er zu zahlen vermag;
Koste die Jauche des Biers in trüben und schartigen Gläsern,
   Prüfe den schillernden Wein, der nie die Kelter gesehn!
Kann es verwundern, wenn endlich das Gift betäubenden Fusels
   Alkoholisch den Geist und die Gemüter entflammt?
Schaudernd empfind' ich es jetzt: in stolzen Palästen nicht – hier nur
   Webt sich dein Schicksal, o Wien – webt sich das Schicksal der Welt!

IX.

Dich auch seh' ich jetzt wieder, du liebes, du freundliches Döbling,
   Das ich vor Jahren begrüßt als ein erwünschtes Asyl.
Damals warst du ein Dorf mit stillen, sonnigen Gassen,
   Wo sich der Wiener Quirit wohlige Häuser gebaut:
Schmucklos, aber bequem, mit fest gegründeten Mauern,
   Lauschigen Gärten, die traut sich ineinander verzweigt.
Heute gehörst du zur Stadt und hast dich danach auch verändert;
   Kaum zu erkennen mehr bist du dem nahenden Blick.
Wo ist die Reihe der Linden, die einst vom Linienwalle,
   Kühlend und duftend zugleich, mich dir entgegengeführt?
Wo, zur Rechten, das Feld, das ausgedehnte, umplankte,
   Drin Cyanen und Mohn wallende Ähren geschmückt?
Ach, verschwunden der Reiz des ländlichen Anblicks! Es ragen
   Nüchtern, einförmig und hoch neue Gebäude empor.
Baugrund wurde der Acker, und das Geleise des Tramway
   Fällte die säuselnde Pracht schattiger Wipfel schon längst.
Aber getröste dich, Herz! Noch weiß ich Gassen zu finden,
   Die sich auch heute gewiß, was dich erfreute, bewahrt.
Sieh: da stehen ja schon und grüßen bekanntere Häuser –
   Manches darunter, das jetzt holdes Erinnern mir weckt.
Freilich haben dazwischen gedrängt sich putzige Villen,
   Türmchen- und erkerbespickt, wie's die »Moderne« verlangt.
Hier auch die jüngste der Straßen, geführt durch verwüstete Gärten –
   Und, o Himmel, dort spreizt, riesig, sich gar ein Palast!
Aber er stört mich nicht mehr; denn schon gewahr' ich der Kirche
   Taubenumflattertes Dach – sehe ein reinliches Haus:
Schimmernd getüncht, mit zwei Stockwerken, die Reihen der Fenster
   Jalousienverhüllt gegen den sengenden Strahl.
Ja, ich kenn' es genau. Dort oben in einsamer Stube,
   Dürftigem Hausrat gesellt, träumte und sann der Poet;
Sann und blickte dabei auf ein Meer von grünenden Wipfeln
   Und auf die Türme der Stadt, die in der Ferne verschwamm.
Selige Qualen des Schaffens und selige Qualen der Liebe,
   Bitterste Tage der Not – ach, wie erlebt' ich sie hier!
Manches hab' ich erreicht, danach ich damals gerungen,
   Und ich breche mein Brot nicht mehr in Tränen wie einst
Aber verblüht ist der Lenz, verglüht das Feuer des Sommers –
   Und das fahlere Laub raschelt im herbstlichen Hauch.

X.

Ja, schon schwillt und reift am Rebengelände der Donau
   Saftig die Traube und blinkt unter den Blättern hervor.
Bald auch naht sich der Winzer und hält ergiebige Lese,
   Die im Korb und im Faß Säckel und Keller ihm füllt.
Und nun zieht es hinaus in Scharen nach Grinzing und Nußdorf,
   Oder nach Sievering, wo delphisch das »Brünndl« entspringt.
Lauter, lebendiger wird's in den bunt sich färbenden Wäldern:
   Fröhliche Stimmen, Gesang – schweigende Menschen ringsum.
Hier gelagerte Gruppen – und dort im schützenden Dickicht
   Liebende Paare, die sich seliger Einsamkeit freun.
Aber sie alle gewahrt man zuletzt in Gärten und Stuben,
   Wo, am Eingang gesteckt, lockend der »Buschen« ergrünt.
Sieh, da sitzen gedrängt sie an roh gezimmerten Tischen
   Bunt durcheinander: der Greis lockigem Jüngling gesellt;
Mütter den Töchtern und Väter den Knaben, die müd' sich gelaufen –
   Selbst der Säugling liegt dort an der nährenden Brust.
Fröhlich kredenzt, hemdärmlig, der »Hauer« den labenden Tropfen,
   Der als »Heuriger« licht blinkt im gehenkelten Glas.
O wie mundet der jetzt zu salzigem Käse und Rauchfleisch,
   Bei der »Bretzen« Geknack, die man an Stäben verkauft!
Und man hört auch Musik: Harmonika, »Klampfe« und Geige –
   Rasender Töne Gemisch schrillt in den Abend hinaus.
Lieder erschallen, urwüchsig und derb, mit verfänglichen Texten,
   Wie sie, satirischen Hangs, drastisch der Wiener ersinnt;
Wasserverschmähende Oden manch eines volkstümlichen Pindar,
   Welcher den Pegasus nicht, aber den Kutschbock besteigt.
Ja, hier lebt noch das Volk! Hier schmausen die letzten Phäaken,
   Denen hohläugige Not noch den »Hamur« nicht verdarb.
Wahrlich, ihr geht nicht unter, ihr Wiener! Dreht sich auch nicht mehr
   An dem Spieße das Huhn – brätelt noch immer die Wurst.

XI.

Nun umwallen die Stadt schon dicht sich senkende Nebel,
   Und aus dem düsteren Grau rieselt der Regen herab.
Kotig die Straßen und triefend die Dächer; verdrossen und fröstelnd,
   Unter dem schützenden Schirm, hasten die Menschen dahin.
Aber die Blumen, die draußen verwelkt auf unwirtlichen Fluren,
   Hier jetzt blühen sie auf, zahllos zu Kränzen gereiht.
Wehmut duftet und haucht ringsum aus Zierden für Gräber;
   Spenden der Liebe empfängt, was schon vermodert zu Staub.
Ich auch pilgre hinaus auf den einsam gelegenen Friedhof,
   Der seit langem bereits Särgen sich nicht mehr erschließt.
Teuerstes ruht mir dort! Doch nicht bei vertrautesten Gräbern
   Bloß, in Trauer versenkt, weil' ich, gefeuchtet das Aug':
Nein, an Zypressen vorbei, durchwandl' ich die Reihen der Hügel,
   Welche gedenkende Pflicht immer noch blühend erhält;
Lese die Kunde des Tods auf ragenden Steinen und Kreuzen –
   Weiter und weiter zurück leitet verwitternde Schrift;
Leitet zurück ins verfloßne Jahrhundert – zu brüchigen Mälern
   Solcher, die man hier einst stolz längs der Mauer begrub.
Würdigste Männer und Fraun. Und doch, wer nennt sie noch heute?
   Wer gedenkt noch der Zeit, da sie gelebt und gewirkt?
Bis auf die Namen vergessen fast alle die ältren Geschlechter,
   Und es liegt kein Kranz mehr auf der schweigenden Gruft.
Aber dem Enkel geziemt's, daß er die weihende Träne
   Mit andächtigem Sinn diesen Entschlafenen zollt.

XII.

Sieh, schon wirbeln die Flocken um ragende Dächer; es sausen
   Eisige Winde mit Macht durch die rings offene Stadt.
Ja, der Winter ist da! Mit ihm erschienen die Freuden,
   Welche der Städter schon längst sommerverdrossen ersehnt.
Alle Theater gefüllt, Applaus erschüttert den Tonsaal –
   Und so bewegt sich auch Wien wieder im alten Geleis.
Amt und Geschäft durchkreuzen die Straßen, auf glitschrigem Pflaster
   Humpelt der Omnibus, rast der Fiaker dahin:
Equipagen dazwischen, von stolzen Trabern gezogen,
   Halten vor jedem Palast, wo man Besuche empfängt;
Stattliche Leute zu Fuß vereint der gewohnte Spaziergang,
   Wohlig in Pelze gehüllt, schreiten sie über den Ring.
Aber vergnüglicher noch hineilen die Schönen zum Eisplatz,
   Wo der geschmeidige Wuchs sich am geschmeidigsten zeigt.
Knapp umschließt ihn die wärmende Jacke; auf braunen und blonden
   Häuptern sitzen kokett Mützen mit Zobel verbrämt.
Hui', wie fliegt sich's dahin auf leicht einritzendem Schlittschuh,
   Den mit bebender Hand knieend der Jüngling geschnallt!
Sieh nur den zierlichen Reigen! Es trennen und fliehn sich die Paare,
   Aber in reizendem Bug kehren sie wieder zurück.
Liebliches Meiden und Finden – gemeinsam wonniges Kreisen,
   Bis die Dämmerung webt um das lebendige Bild.
Aber da zuckt auch empor das elektrische Licht und umschimmert
   Magisch den spiegelnden Plan und die Gestalten darauf.
Ach, wer entfernte sich jetzt? Erstarren die Finger im Müffchen,
   Spürt auch das Näschen den Frost – lodert in Flammen das Herz.

XIII.

Aber schon naht sich auch jetzt, verlangender Wiener, dein Fasching,
   Den der gebildete Sinn höheren Zwecken vereint.
Bälle, Redouten zum Wohle der Menschheit. Erhabensten Glanzes,
   Hell von Orchestern durchtönt, schließen die Säle sich auf.
Humanität wird getanzt. Was gilt es nicht alles zu fördern!
   Küchen, Spitäler verlangt, wärmende Stuben das Volk.
Lächelnd erscheinen besternte Minister; Zierden des Reichsrats,
   Knospende Reden im Haupt, stehen an Pfeiler gelehnt.
Patronessen empfangen und ziehen zu kurzen Gesprächen
   Koryphäen der Kunst, Leuchten des Wissens heran.
Aber es klingt die Musik! Es flattern beschwingt die Gewänder,
   Leuchten und schimmern wie Schnee Schultern und Busen ringsum.
Lieblich berauschende Klänge, wie reißt ihr hinein in den Wirbel!
   Blühende Leiber, wie reizt ihr, zu umschlingen, den Arm!
Alternde Füße sogar, sie fühlen sich jählings beflügelt,
   Alternde Herzen, wie meins, werden in Taumel versetzt.
Und so dreht sich auch hier, wie draußen beim ehrlichen »Schwender«,
   Schließlich und endlich die Welt nur um die Walzer von Strauß.

XIV.

Dort, wo der Stille bedürftig, in abseits gelegener Gasse
   Fand der Dichter sein Heim, hebt sich ein gotischer Bau.
Lange steht er noch nicht; ihn schuf das letzte Jahrzehent,
   Und zur Schule geweiht haben ihn Väter der Stadt.
Eifrige Knaben und Mädchen besuchen die stattlichen Räume,
   Wo sich Licht und Luft hell und gedeihlich verteilt.
Dort erlernen sie alles, was not zu wissen dem Menschen,
   Denn bequemlich, wie einst, ebnet sich nicht mehr der Pfad.
Lesen und schreiben zu können, genügte; mit Fibel und Bibel
   Und dem Einmaleins reichte vorzeiten man aus.
Heute ist jegliches Kind bereits ein Gelehrter; wie oft schon
   Hat mich ergrauenden Mann Weisheit des Schülers beschämt.
Aber betrachtend verweil' ich mich gern, wenn das knirpsige Völklein,
   Bunt durcheinander gemischt, wimmelnd den Türen entströmt.
Welche Fülle des Lebens in all den verschiednen Gestalten,
   Teils wie von Rubens, van Dyk – teils wie von Cranach gemalt!
Früh verrät sich in Gang und Gebärde das innerste Wesen,
   Und dem erkennenden Blick zeigt sich das Werdende schon.
Schmächtiger Knabe, erhobenen Haupts hinwandelnd im Schwarme,
   In dir reift mir gewiß bald ein Kollege heran.
Dichtest du etwa schon jetzt an einem veristischen Drama,
   Das in der Klinik beginnt und am Seziertisch verläuft?
Und du, niedliche Kleine, mit großen, beweglichen Augen,
   Ahnst du Novellen bereits, üpp'ger als die des Boccaz?
Freieste Liebe versprichst du, indessen breitspurig die Freundin
   An der Seite dir stapft, reizlos verschnittenen Haars.
Diese, ich seh's, wälzt unter der wuchtigen Stirn schon die Frage,
   Wie man das Männergeschlecht gänzlich vom Erdball verdrängt.
Ja, hier bereitet sich vor in allen Phasen die Zukunft,
   Achtlos trippeln an mir ihre Vertreter vorbei:
Wahrer des ewigen Friedens, Begründer der gleichesten Gleichheit,
   Weltbefreier vom Gift schnöden Mikrobengezüchts;
Maler der vierten Dimension – und Entdecker der fünften,
   Die mit Gespenstern bereits speisen vertraulich zu Nacht.
Aber gedeiht nur und blüht, ihr kleinen Erneurer der Menschheit –
   Wachsen die Bäume doch nicht gleich in den Himmel hinein!

XV.

Wieder leuchten die Kuppeln, beschienen von wärmerem Strahle,
   Und in mildestem Blau breitet der Himmel sich aus.
Sonnige Lüfte umkosen das Antlitz der wandelnden Menschen,
   Frühlingshütchen zur Schau tragen die Schönen bereits.
Duftende Veilchen verkauft man und zarte, goldige Primeln,
   Mit verlangendem Griff strecken die Hände sich aus.
Woche vor Ostern, du stillste des Jahres, wie bist du belebt doch!
   Kirchen- und Gräberbesuch füllen die Straßen der Stadt.
Schaulust drängt sich in Scharen zum Auferstehungsgepränge:
   Fahnen, Posaunen, Gesang, funkelnder Priesterornat. –
Ich doch wandle hinaus ins Freie und suche die Pfade,
   Die zum Kahlengebirg führen allmählich hinan.
Weiter und weiter erschließt sich im Kreise die liebliche Landschaft;
   Dort schon schimmert der Strom, schimmern die knospenden Aun.
Tiefes Schweigen ringsum; nur von noch scholligen Feldern
   Schwingt sich mit Jubelgesang einsam die Lerche empor.
Blühende Bäume umfrieden vereinzelte stille Gehöfte,
   Und in bräutlichem Schmuck stehen die Büsche am Rain.
Endlich ist sie erreicht die Fernen eröffnende Stelle,
   Wo ich als Knabe bereits schwelgenden Auges geweilt.
Dort eine Bank auch – vielleicht noch dieselbe! Nun ruh' ich im Anblick.
   Hehr aufschauert in mir wonniges Heimatgefühl.
Ja, da bin ich im Herzen der alten, der herrlichen Ostmark,
   Deren Banner einst stolz flatterte über dem Reich –
Über dem Reich, von dem sie getrennt nun, beinahe ein Fremdling:
   Östreichs Söhne, man zählt kaum zu den Deutschen sie mehr.
Aber nicht deshalb neig' ich die Stirn jetzt in bangender Trauer,
   Weil du, mein Vaterland, ganz auf dich selber gestellt.
Proben kannst du die eigenste Kraft, die Kraft des Gerechten –
   Und es sinkt und es steigt ewig die Woge der Zeit.
Aber, o Schmerz! Du bist auch getrennt von den eigenen Gliedern,
   In Verblendung, mit Haß wüten sie gegen das Haupt.
Doch du bist noch, o Wien! Noch ragt zum Himmel dein Turm auf,
   Uralt mächtiges Lied rauscht ihm die Donau hinan.
Und so wirst du bestehn, was auch die Zukunft dir bringe –
   Dir und der heimischen Flur, die dich umgrünt und umblüht.
Sieh, es dämmert der Abend, doch morgen flammt wieder das Frührot –
   Und bei fernem Geläut' segnet dich jetzt dein Poet.

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