GedichtGedichte

Das Gedicht „Selige Sehnsucht“ stammt aus der Feder von Johann Wolfgang von Goethe.

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet:
Das Lebendge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du, Schmetterling, verbrannt.

Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Analyse

Das Gedicht „Selige Sehnsucht“ (1817; Epoche der Romantik) besteht aus 5 Strophen mit je 4 Versen. Das Reimschema besteht aus einem Kreuzreim. Das Versmaß ist meist ein 4-hebiger Trochäus (in den Versen 18 und 20 3-hebig). Weibliche Kadenzen sind in dem Gedicht vorrangig, auffällig sind jedoch die vier männlichen Kadenzen in den Versen 14, 16, 17 und 19.

Inhalt / Zusammenfassung

Inhaltlich lässt sich das Gedicht in 2 Teile gliedern: Die Strophen 1 und 5 bilden eine Art Rahmenhandlung, in dem sich das lyrische Ich an den Leser wendet. Die Strophen 2 - 4 beschreiben das Schicksal eines Schmetterlings, der zunächst ein "normales" Leben führt, dann jedoch eine brennende Kerze entdeckt. Er nähert sich dieser, aus Neugier & Verlangen, und verbrennt schlussendlich.

Hintergrund

Das Bild der Flamme, in der ein Schmetterling verbrennt, gehört zu den verbreitetsten Motiven der persischen Lyrik.
Das Ghasel, von dem Goethe ausging, stammt aber nicht von Hafis (1320 - 1390) dem bekannten persischen Dichter und Mystiker. Es ist ein durchschnittliches Werk der persischen Lyrik, das gängige Motive enthält, von denen Goethe einige herausgriff.

Das Gedicht befindet sich an vorletzter Stelle im "Buch des Sängers" aus der Gedichtsammlung "West-östlichen Divan" (1819). Der Erstdruck erfolgte im "Taschenbuch für Damen" (1817) unter dem Titel "Vollendung".

Mit dem Motiv des Selbstopfers, den religiösen und literarischen Bezügen, ungewöhnlichen Bildern und der berühmten Sentenz „Stirb und werde!“ zählt "Selige Sehnsucht", bezüglich der Interpretation, zu den schwierigsten Werken von Goethe.
Die Paradoxie von Verlieren & Gewinnen, Entselbstung & Selbsterhaltung kommt auch in dem späteren Gedicht „Eins und Alles“ („Im Grenzenlosen sich zu finden“, 1821) explizit zur Sprache. Die Gedankenwelt von „Selige Sehnsucht“ diente unter anderem Thomas Mann zur dichterischer Inspiration ("Lotte in Weimar", Kap. 9). Als eine Entgegnung „Nicht mehr Stirb und nicht mehr Werde“ sind die „Statische(n) Gedichte“ von Gottfried Benn zu lesen (1948, z.B. „Wer allein ist“).

Der Phönix als das Sinnbild des sich verjüngenden Seelenvogels, der Wiedergeburt durch Selbstverbrennung fand sich bereits in dem seinerzeit populären „Physiologus“ (entst. um 300 n. C.). Ein Ghasel des Hafis beginnt:
„Der Phönix meines Herzens hat / Sein Nest im letzten Himmel, / Im Körperkäfig eingesperrt“.

Dieser unsterbliche Vogel aus der griechischen Mythologie (mit Entsprechungen in vielen Kulturen wie der ägyptischen und persischen), regeneriert sich zyklisch. Er wird mit der Sonne assoziiert und erwacht zu neuem Leben, indem er sich aus der Asche seines Vorgängers erhebt.

Im Laufe der Zeit und über seine Ursprünge hinaus konnte der Vogel Phönix auf verschiedene Weise die Erneuerung im Allgemeinen sowie die Sonne, die Zeit, das Reich, die Metempsychose (Seelenwanderung), die Weihe, die Auferstehung, das Leben im himmlischen Paradies, Christus, Maria, die Jungfräulichkeit, den außergewöhnlichen Menschen und bestimmte Aspekte des christlichen Lebens symbolisieren.
Einige Gelehrte haben behauptet, dass die narrative Elegie "De ave Phoenice" (Anfang des 4. Jahrhunderts) das mythologische Phönixmotiv als Symbol für die Auferstehung Christi darstellen könnte.

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