GedichtGedichte

Das Gedicht „Under der linden“ stammt aus der Feder von Walther von der Vogelweide.

Under der linden
an der heide,
dâ unser zweier bette was,
Dâ muget ir vinden
schône beide
gebrochen bluomen unde gras.
Vor dem walde in einem tal,
tandaradei,
schône sanc diu nahtegal.

Ich kam gegangen
zuo der ouwe:
dô was mîn friedel komen ê.
Dâ wart ich empfangen,
hêre frouwe,
daz ich bin saelic iemer mê.
Kuster mich? wol tûsentstunt:
tandaradei,
seht wie rôt mir ist der munt.

Dô het er gemachet
alsô rîche
von bluomen eine bettestat.
Des wirt noch gelachet
inneclîche,
kumt iemen an daz selbe pfat.
Bî den rôsen er wol mac,
tandaradei,
merken wâ mirz houbet lac.

Daz er bî mir laege,
wessez iemen
(nu enwelle got!), sô schamt ich mich.
Wes er mit mir pflaege,
niemer niemen
bevinde daz, wan er und ich.
Und ein kleinez vogellîn:
tandaradei,
daz mac wol getriuwe sîn.

Hochdeutsche Version

Unter der Linde,
auf der Wiese,
dort wo das Bett von uns zweien war,
da könnt ihr sehen,
liebevoll gebrochen,
Blumen und Gras.
Vor einem Wald in einem Tal,
tandaradei,
sang schön die Nachtigall.

Ich kam gegangen
zu der Wiese:
Mein Geliebter war schon vor mir da.
Und so begrüßte er mich,
heilige Jungfrau,
daß ich darüber für immer glücklich bin.
Ob er mich küßte? Sicherlich tausendmal:
tandaradei,
seht, wie rot mein Mund ist.

Er hatte aus
Blumen ein herrliches
Bett hergerichtet.
Darüber wird sich jeder von Herzen
freuen,
der dort vorübergeht.
An den Rosen kann er noch gut,
tandaradei,
erkennen, wo mein Kopf lag.

Daß er mit mir schlief,
wüßte das jemand
(nein bei Gott!), dann schämte ich mich.
Was er mit mir tat,
niemand jemals soll das
wissen außer ihm und mir.
Und jenem kleinen Vogel:
tandaradei,
der wird sicherlich verschwiegen sein.

Analyse

Das Gedicht "Under der linden" (um 1200; Epoche des Mittelalters) besteht aus 4 Strophen mit jeweils 9 Versen. Jeweils bis zum sechsten Vers der jeweiligen Strophe verschränken sich die Reime in Form von abcabc, anknüpfend umarmt ein neuer Reim "tandaradei" (eine lautmalerische Nachahmung des Gesangs der Nachtigall). Dass gesamte Reimschema kann als abcabcded beschrieben werden.

Da es sich um ein Lied, und kein Gedicht, handelt, unterliegt das Metrum der Interpretation (z.B. überwiegend Jambus mit eingeschobenem Daktylus). Es hängt auch davon ab, wo die melodischen Pausen gesetzt werden.

Inhalt / Zusammenfassung

Das Lyrische Ich, vermutlich ein einfaches Mädchen, schildert ihr Liebeserlebnis mit ihrem höfischen Geliebten inmitten der Natur, deren idyllische Beschreibung stark mit der Geschichte verwoben ist. In dem Lied kommt auch der literarische Topos (Motiv) des "locus amoenus" (schöner Ort) vor.
In der ersten Strophe wird eine „Nachtigall“ (Zeile 9) erwähnt. Sie ist der stille Beobachter der Liebesszene, und wird als einzige Zeugin der Begegnung auch in der letzten Strophe genannt.

Hintergrund

Dieses Lied ist das bekannteste der so genannten Mädchenlieder des Dichters, die den Abschied von der Phase seiner jugendlichen Lyrik markieren, die vom Minnesang geprägt war.
Sie zeigen die Abkehr vom Ideal der „Hohen Minne“ des Ritters zur höhergestellten Dame (frouwe), die unerfüllt bleibt. Walther hat in verschiedenen Liedern das Wesen von Hoher und „Niederer Minne“ charakterisiert und schließlich das neue Ideal der „ebenen Minne“ – einer erfüllten Liebe von gleich zu gleich – entwickelt.

In den Mädchenliedern verbindet sich die Raffinesse dieser Gedichte mit der Beschreibung einer sinnlicheren Art der Liebe zu einer Bürgerlichen (Niedere Minne) und schafft so Texte von hohem poetischen Wert.

Keines der beiden überlieferten Manuskripte enthält Melodien. Allerdings passt die Melodie des altfranzösischen Volksliedes "En mai au douz tens novels" (Autor unbekannt) zum Metrum des Textes. Dies deutet auch darauf hin, dass "Under der linden" ein Kontrafaktum eines französischen Originals sein könnte.

Siehe auch das Liebesgedicht: Du bist min, ich bin din.

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