GedichtGedichte

Das Gedicht „Die Sonne und der Wind“ stammt aus der Feder von Johann Gottfried Herder.

Wind und Sonne machten Wette,
Wer die meisten Kräfte hätte,
Einen armen Wandersmann
Seiner Kleider zu berauben.

Wind begann;
Doch sein Schnauben
Tat ihm nichts; der Wandersmann
Zog den Mantel dichter an.

Wind verzweifelt nun und ruht;
Und ein lieber Sonnenschein
Füllt mit holder, sanfter Gluth
Wanderers Gebein.

Hüllt er nun sich tiefer ein?
Nein!
Ab wirft er nun sein Gewand,
Und die Sonne überwand.

Übermacht, Vernunftgewalt
Macht und läßt uns kalt;
Warme Christusliebe –
Wer, der kalt ihr bliebe?

Fabel

Sonne und Wind ist eine Äsop zugeschriebene Fabel. Sie wurde erstmals im 16. Jahrhundert von Joachim Camerarius dem Älteren aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt. Die bekannteste deutsche Nachdichtung ist wohl die von August Gottlieb Meißner (1753–1807).

Bereits im Jahre 1688 hatte Jean de La Fontaine eine französische Fassung der äsopischen Fabel veröffentlicht, die den Titel Phöbus und Boreas trägt. Johann Gottfried Herder befasste sich auch mit diesem Thema und versah eines seiner Gedichte mit dem Titel Wind und Sonne (siehe oben). Die im englischen Sprachraum bekannteste Übersetzung mit dem Titel The North Wind and the Sun (dt. Der Nordwind und die Sonne) stammt von George Fyler Townsend aus dem Jahr 1887.

Inhalt

In allen Fassungen der Fabel streiten sich Wind und Sonne, wer von den beiden der Stärkere sei. Sie einigen sich, derjenige solle als der Stärkere angesehen werden, der einen Wanderer, der des Weges kommt, zuerst dazu bringen kann, seinen Mantel abzulegen. Je stärker der Wind bläst, desto fester hüllt sich der Wanderer in seinen Mantel, während es der Sonne schnell gelingt, den Wanderer durch die Wärme ihrer Strahlen dazu zu bringen, seine Kleidung abzunehmen. Der Wind muss die Sonne als Siegerin des Wettbewerbs anerkennen.

Die französische Version endet mit dem Motto « Plus fait douceur que violence. » (dt. „Mehr bewirkt Sanftheit als Gewalt.“),
die in der englischen Fassung als “Persuasion is better than force.” (dt. „Überzeugung ist besser als Kraft.“) wiedergegeben wird.

Meißners Fabel endet mit der Aussage: „Zehnmal sicherer wirken Milde und Freundlichkeit, als Ungestüm und Strenge.“
Bei Herder ist folgende Aussage zu lesen: „Übermacht, Vernunftgewalt / Macht und läßt uns kalt; / Warme Christusliebe – / Wer, der kalt ihr bliebe?“

Nachdichtung durch August Gottlieb Meißner (1753–1807)

Einst stritten sich Sonne und Wind: wer von ihnen beiden der Stärkere sei? und man ward einig: derjenige solle dafür gelten, der einen Wanderer, den sie eben vor sich sahen, am ersten nötigen würde, seinen Mantel abzulegen.

Sogleich begann der Wind zu stürmen; Regen und Hagelschauer unterstützten ihn. Der arme Wanderer jammerte und zagte; aber auch immer fester und fester wickelte er sich in seinen Mantel ein, und setzte seinen Weg fort, so gut er konnte.

Jetzt kam die Reihe an die Sonne. Senkrecht und kraftvoll ließ sie ihre Strahlen herabfallen. Himmel und Erde wurden heiter; die Lüfte erwärmten sich. Der Wanderer vermochte nicht länger den Mantel auf seinen Schultern zu erdulden. Er warf ihn ab, und erquickte sich im Schatten eines Baumes, indes die Sonne sich ihres Sieges erfreute.

Zehnmal sicherer wirken Milde und Freundlichkeit, als Ungestüm und Strenge.

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