GedichtGedichte

Das Gedicht „Die Legende vom Tannenbaum“ stammt aus der Feder von Marx Möller.

In der Bergpredigt, wie bei Matthäus zu lesen,
ist auch von Bäumen die Rede gewesen.
Der Heiland hatte gesagt, daß Feigen
nicht reifen können auf Distelzweigen,
daß Trauben nicht wüchsen am Dornenhange,
und daß der Baum, der nicht Früchte trage,
zu nichts wert erscheine auf Erden,
als abgehauen und verbrannt zu werden.

Und als er geendet, da ist schon bald
ein Streiten entstanden im nahen Wald.
Die Disteln, welche die Rede gehört,
waren über die Maßen empört
und haben so recht überlegen gesagt:
"Wir haben noch immer den Eseln behagt!"
Die Dornen reckten die scharfen Spitzen
und sagten: "Das lassen wir nicht auf uns sitzen!"
Die gelben, aufgedunsenen Feigen
zeigten ein sattes, blasiertes Schweigen,
und die Trauben blähten sich gar nicht schlecht
und knarrten geschwollen "So ist es recht!"

Nur ein zierlicher Tannenbaum
stand verschüchtert, rührte sich kaum,
horchte nicht auf das Rühren und Klagen,
hat sich still und bescheiden betragen
und dachte und dachte in einem fort
an des Heilandes richtendes Wort.
Er fühlte sich ganz besonders getroffen;
er hatte kein Recht, auf Gnade zu hoffen;
die erste Axt musste ihn zerschlagen;
er wusste nur Tannenzapfen zu tragen;
Früchte hatte er nie gebracht,
das hatte ihn niedergeschlagen gemacht.

Als sich nun aber die Sonne versteckt
und tiefes Dunkel die Erde deckte,
und, ermüdet von Reden und Klagen,
die anderen Bäume im Schlummer lagen,
wollte er nichts vom Schlummer wissen,
hat die Wurzeln aus dem Erdreich gerissen,
und unbemerkt in der stillen Nacht
hat er sich auf den Weg gemacht,
um nach dem strengen Heiland zu gehen
und milderes Urteil sich zu erflehen.

Und als er nach mühseligen Stunden
endlich den langen Gesuchten gefunden
und ihm sein Leid recht herzlich geklagt,
da hat der Heiland lächelnd gesagt:

"Wisse, dass seit Beginn der Welt
ein jeglicher Fluch seinen Segen enthält,
und dass in jeglichem Segensspruch
verborgen liegt ein heimlicher Fluch!

Den Feigen brachte nur Fluch mein Segen,
weil sie jetzt sündigen Hochmut hegen;
die Trauben haben mir nicht gedankt,
die haben nur mit den Dornen gezankt;
die Disteln ließen sich nicht belehren,
die konnten den Fluch nicht zum Segen kehren;
du aber hast dich besser bedacht!
Du hast aus dem Fluch einen Segen gemacht!
Und dein Bittgang sei nicht umsonst gewagt!
Zwar - was gesagt ist, das bleibt gesagt.

Dein Schicksal ist jetzt nicht mehr zu trennen
vom Abhau'n und im Ofen-Verbrennen;
aber: ich will dich erheben und ehren,
ich will einen rühmlichen Tod dir bescheren!
Dich soll kein Winterschlaf traurig umschließen!
Ein doppeltes Leben sollst du genießen!
Und auf deinen zierlichen Zweigen
sollen die herrlichsten Früchte sich zeigen,
soll man Lichter und Zierrat schaun!
Freilich - erst wenn du abgehaun!
Sei wie ein Held, der für andere leidet,
der in blühender Jugend strahlend verscheidet.

Damit dein Leben, das kurze, doch reiche,
meinem irdischen Wandel gleiche!
Du sollst ein Bote des Friedens sein!
Du sollst glänzen im Heiligenschein!
Den Kindern sollst du Freude verkünden!
Den Sünder wecken aus seinen Sünden!
Gesang und Jubel soll dich umtönen!
Mein lieblichstes Fest, sollst Du lieblich verschönen!
Du bist von allen Bäumen hienieden
der gesegnetste! - Zieh hin in Frieden."

Anmerkung: Das Gedicht nimmt keinen Bezug auf die Geburt Christi. Ausgehend von Matthäus 7,16-19 EU erzählt der Dichter eine selbst erdachte „Legende“ – eigentlich eher eine Fabel –, die die Lichter am Weihnachtsbaum als die eigentlichen Früchte der Tanne deutet, wertvoller als jede natürliche Frucht.

 

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